Das Weihnachtsekel
- The Machine
- 23. März 2023
- 30 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Apr. 2024
ACHTUNG!
Der folgende Text ist nichts für Nerven. Nein, ich habe mich nicht verschrieben, ich habe nicht das Wörtchen „schwache“ vergessen. Generell nichts für Nerven.
„Ahhh, Weihnachten. Das Fest des Hasses, die Zeit im Jahr, zu der man sich gegenseitig an die Gurgel geht. Die Jahreszeit, in der man sich aus Gruppenzwang und dem Verlangen nach kultureller Bedeutsamkeit dazu hernieder lässt, selbst Leuten, die man nicht mag und die es auch nicht verdient hätten, Geschenke zu bereiten. Eine Zeit, in der rein mathematisch alles schief laufen muss, was man sich vornimmt, weil einfach alle Leute am Rad drehen.
Paare nehmen sich gemeinsam Urlaub, um ein paar schöne Feiertage miteinander zu verbringen, aber im Endeffekt merken sie, dass sie sich eigentlich gar nicht leiden können, weil sie ihm ein paar Socken geschenkt hat und er ihr im Gegenzug bloß ein Lächeln. Während sie Heiligabend also mit ihrem One-Night-Stand aus einem anderen Kulturkreis verbringt, kuriert er sein Dilirium auf der Geschlossenen der SHG-Kliniken Sonnenberg aus.
Die Zeit des Jahres, in der jeder wegen jedem Scheiß Stress schieben muss und es nach außen hin als eine Notwendigkeit zur Befriedigung des weihnachtlichen Verlangens nach Solidarität und Nächstenliebe verkauft.
Auf den Weihnachtsmarkt gehen sie alle, müssen aber mindestens alle ein Dutzend Glühwein runterkippen, weil sie es sonst selbst nicht aushalten. Dazu wird von morgens bis abends Süßkram gefressen und hinterher wird gejault, warum das Shirt nicht passt, das man sich nicht zu Weihnachten gewünscht, aber trotzdem bekommen hat.
Überall wichteln sie, weil irgend ein Depp, dem es das ganze Jahr über nicht gelingt, sich in die Gruppe zu integrieren denkt, dass Weihnachten genau der richtige Zeitpunkt im Jahr dafür wäre, den Gruppenzusammenhalt zu stärken – und hinterher ist jeder beleidigt, weil man sich mehr als üblich mit Kollegen oder Bekannten auseinandersetzen muss, um ein passendes Geschenk zu finden – oder eben nicht. Alles ein einziger Arschkrampf, dieses Fest.
Von den Katholiken will ich gar nicht erst anfangen! Ich könnte den ganzen Tag herumdebattieren, warum ausgerechnet die Katholiken sich das Zentrum meiner negativen Aufmerksamkeit verdient haben, aber ich denke gerade zur Weihnachtszeit ist das ganz besonders offensichtlich.
Immer wieder ein ironischer Anblick, wenn die Ömchen aus der Kirche dackeln, wo sie die letzten dreieinhalb Stunden damit verbracht haben, sich die Sünden von den klapprigen Schultern zu beten, nur um gleich nach Verlassen der göttlichen Einrichtung darüber zu rätschen, was Beate denn letzte Woche wieder für ein hässliches Kleid anhatte und wie es Ulrike denn nur wagen kann, neuerdings nochmal mit Männern auszugehen, obwohl sie doch schon seit 12 Jahren verwitwet ist!
Und was soll überhaupt die ganze Deko? In der Bibel selbst steht ja bekanntermaßen geschrieben, dass im Nahen Osten, wo „unser“ Jesus, das fucking Christkind himself, herkommt, vor zweitausend Jahren Nordmann-Tannen aus dem Boden gesprossen sind, oder dass Karnickel im Frühjahr bunte Eier legen. Die Bibel ist nicht ohne Grund das meistgedruckte Buch, oder? Dabei hat sie einen genauso hohen Sinngehalt wie die Harry Potter-Reihe. Fantasy-Bücher eben, bestenfalls für eine kurze Weile unterhaltsam. Lest lieber meine Texte!
Und wie zu Weihnachten alles aussieht! Überall hängen bunte Blinkelichter, peinlich-kitschige Figurinen stehen auf Dächern und in Vorgärten und der Stromverbrauch pro Kopf ist so hoch wie im Rest des Jahres nicht zusammen. Alles ist nur noch in drei Farben zu finden: Gold, kackbraun und weinrot. Hat auch nur irgendjemand etwas von nicht-krebserregender Farbgebung gehört?
Sicherheitshalber muss die Stadtreinigung noch ihr Streusalz auf die Straße ausfahren, bevor das MHD abläuft, dabei schneit es seit 10 Jahren schon nicht mehr zu Weihnachten. Selbst wenn Schnee und Eis liegen würden: Entweder hat man keine Angst sich abzulegen oder geht halt nicht raus! Ich streue doch kein Salz, damit sich die Oma von gegenüber nicht ablegt, nur damit ich 30 Jahre später, wenn Ömchen längst zwei Meter unter der Erde ruht, den Preis dafür bezahlen kann, dass das ganze Streusalz die Pflanzen zum Verwelken gebracht hat.
Früher hat man sich wenigstens noch schöne Kindergeschichten über das Christkind, den Nikolaus und den Weihnachtsmann ausgedacht, heute fährt ein fetter, weißbärtiger Alkoholiker mit Nikotinsucht seinen spärlich beleuchteten, roten Kastenwagen mit weißem Schriftzug auf der Seite durch die Saarbrücker Innenstadt und verkauft Kindern koffeinhaltige Kaltgetränke, während Mariah Carey in seinem Autoradio sich den ganzen Tag über schon die Seele aus dem Leib schreit.
Aber Hauptsache die Wirtschaft boomt zu Weihnachten und Ostern! Die Wirtschaftsstagnation war es ja nicht zuletzt, die Wolfgang Schäuble in den Rollstuhl gebracht hatte, wegen der Peter Altmaier der Kopf durch die Haare gewachsen ist und wegen der Merkel seit 1996 nicht mehr gelächelt hatte und was würden wir nur ohne die drei tun?! Dann stellen wir doch lieber im September schon die Schokoladen-Nikoläuse in die Regale und feiern das Drecksfest den dreien zuliebe.
Ich KOTZE bei Weihnachten. IM STRAHL! Überall nennen sie mich den Grinch. Grinch. Ich?
Erstens – bin ich nicht grün. Höchstens, wenn ich wieder Mutters gefüllte Paprika essen musste. ZWEITENS – ist der Grinch im Vergleich zu mir ein miserabler Amateur. Dieser Lappen hat nicht mal 40 Minuten durchgehalten bevor er eingeknickt ist. Ich bin nicht eingeknickt. Ich bin derjenige, der ungeduscht und in Unterwäsche zum Weihnachtsessen erscheint, der sich an Heiligabend in der Firma den Weihnachtszuschlag verdient, der, für den der Stern von Bethlehem nichts weiter ist als die Nahost-Niederlassung von Mercedes-Benz, der, der die Steuererklärung an Weihnachten macht, weil er ansonsten mit seiner Familie in Kontakt treten müsste, nur um sich die immer selbe Diskussion anzuhören.“
*durchatmen*
So in etwa muss sich der Monolog anhören, den ich jedes Mal von mir gebe, wenn ich mich vor jemandem rechtfertigen muss, warum ich Weihnachten nichts abgewinnen kann. Wenn man nicht mitspielt, wird man aufgezogen, aber ich habe es bis jetzt immer mit Humor genommen – wie man sieht. Weil es vielleicht der ein oder andere Leser bis hierhin geschafft hat, der Weihnachten immer noch mag, beginne ich vielleicht endlich mit der eigentlichen Geschichte. Es ist nicht bloß die Geschichte von Weihnachten 2021, es ist eine Geschichte über all die Weihnachten meines Lebens und über Weihnachten an sich. Wie ihr Leser vielleicht feststellt, ist meine Definition des Begriffs Weihnachten nicht unbedingt so deckungsgleich mit der von allen anderen.
1. Dezember 2021
Ich mag den Winter. Nicht Weihnachten, den Winter. Ihr wisst schon, diese arschkalte, mittlerweile schneefreie zeit von November bis Februar, in der der Tag nur 3 Sonnenstunden hat und man Reifen mit Profil aufzieht. Es war auch an diesem Tag arschkalt. Geschneit hat es – wider Erwarten – sogar ganze 20cm.
Geräumt wurden die Straßen im Hinterland ja nicht mehr zuverlässig. Heißt im Umkehrschluss, dass die ganzen Spezialisten nur noch höchstens 30 Sachen fuhren, weil sie ja nicht vorausahnen konnten, dass man im Winter zufällig Winterreifen gebrauchen konnte und aus dem Gefühl heraus noch die Profillosen drauf gelassen haben.
Ich hatte Grund zur Freude: Bei Glatteis kam ich wenigstens mal ohne Handbremse durch die Kurven und wenn sich mal so ein Lahmarsch auf die Straßen verirrte, so konnte ich denjenigen wenigstens überholen, ohne lange auf den Gegenverkehr warten zu müssen.
2. Dezember 2021
Der Schnee lag noch. Mehrheitlich bestand er zwar nur noch aus braunschwarzem Matsch mit gelegentlichen Urinspuren, aber Hauptsache Herr Nachbar kippt 'nen Sack Streusalz vor seine Haustüre, wo er den ganzen Winter nicht mal zum Post holen mehr auftauchen wird. Streusalz ist scheiße für die Umwelt. Räumpflicht ist scheiße für meinen Rücken. Mit dem richtigen Schuhwerk hat man auf Schnee sogar mehr Grip als auf ungestreutem Boden. Ich sehe zwei Probleme und eine Lösung. Der Schnee bliebe ohnehin nicht mehr als einen weiteren Tag liegen, das unnütze Salz noch Wochen.
3. Dezember 2021
Meine Mutter rief mich an, als ich auf der Arbeit war. Ich sollte natürlich sofort meine aktuelle Tätigkeit unterbrechen und ihr zur Hilfe eilen. Als ich dankend verneinte, weil ich noch ein paar Stunden bis Feierabend hatte, schrieb sie kurzerhand eine E-Mail an den Kundenservice meiner Firma. Ich wusste davon nichts, bis mein Chef mich wenig später darauf hinwies, für private Angelegenheiten auch künftig meine private Mailadresse zu benutzen. Er wollte dann „trotzdem mal eine Ausnahme machen, weil es sich wichtig anhörte“. Nach Verlassen meiner Arbeitsstätte hörte ich von drinnen bloß noch schrilles Gelächter.
Mutter wurde abgeschleppt, hieß es. Also ihr Wagen, nicht sie, dafür ist sie zu alt. Bei dem Wagen handelte es sich um den aus den anderen Storys bekannten Nissan Juke. Insgeheim kam in mir die Hoffnung auf, dass meine Mutter mit diesem Ding übers Eis geschlittert war und es kaputt gefahren hatte. Sah ja sowieso schon aus wie ein Totalschaden.
Meine Freude wurde jäh getrübt, als ich beim Abschleppdienst ankam: Kein Totalschaden, nur absolutes Halteverbot. Weil mein Vater meiner Mutter diesen Monat schon drei mal das Haushaltsgeld gekürzt hatte, brauchte sie also jemanden, der die 250 Tacken für Verwarnung und Abschleppen bezahlte. Sie wollte das natürlich nicht meinem Vater erzählen, der hätte sonst bis zur Rente nur noch eine Fresse gezogen.
4. Dezember 2021
Endlich Wochenende. Der Schnee war leider längst weg, sonst wäre ich vielleicht noch rausgegangen. Man muss die früh einsetzende Dunkelheit schließlich nutzen. Das ist die Gelegenheit, um raus zu gehen und trotzdem keine Menschenseele zu treffen, die einem potenziell auf die Nerven gehen könnten. Aber war dann heute nicht. Wenn zu wenig Schnee lag, trauten sich die Leute mit ihren Crocs und Flip-Flops nämlich wieder vor die Tür.
Ich setzte mich stattdessen mit einer Tasse heißem Kakao an den Rechner und begann damit, schmachvolle Schriftstücke zu verfassen.
5. Dezember 2021
Sonntag. Advent. Familienessen. Es gab eigentlich Essen wie jeden Sonntag bei meiner Mutter, nur diesmal stand ein aus Totholz geflochtener Adventskranz auf dem Tisch, von dem eine Kerze brannte. Ich biss einmal herzhaft hinein.
„Der Salat ist heute ein bisschen trocken“, meinte ich schmatzend zu meiner Mutter, „Haben wir noch Dressing?“
Nach dem Essen quälte mein Vater unsere Trommelfelle, insbesondere die der Katze, denn für Heiligabend musste er ja Weihnachtslieder auf seinem Akkordeon üben. Mir war es dabei ein Rätsel, warum er die „Weihnachtsbäckerei“ immer noch nicht hinbekam, obgleich er schon seit Juni dafür übte. Außerdem trat er im Takt immer so fest auf dem Boden, dass es im Katzenkeller untendrunter den Putz von der Decke schüttelte. Die arme Mieze.
Zum Vergleich: Ich wurde über bescheidene 12 Jahre meines Lebens hinweg am Keyboard unterrichtet. Ich war bei Weitem kein Meister, meine Stärke lag in der Theorie, aber die Weihnachtsbäckerei konnte ich schon nach ein, zwei mal üben fehlerfrei auswendig. Auswendig, also rein nach Gehör, ohne Noten, ohne technische Unterstützung.
6. Dezember 2021
Nikolaustag. Montag. Wichteln auf der Arbeit. Die drei Heiligtümer des Todes. Ich hatte genau drei, in Zahlen: 3, mal in meinem Leben Spaß am Wichteln. Das erste mal war in der Unterstufe, da hat jeder was besorgt und wir haben darum gewürfelt, wer was bekam. Ich hatte eine Packung Schokokekse besorgt und so gewürfelt, dass die Kekse am Schluss wieder bei mir selbst gelandet waren.
Das zweite Mal war in Klasse 10, Spanischunterricht. Weil ich die Sprache und die Kultur und vor allem die Lehrerin abgrundtief gehasst habe, haben mein guter Kollege und ich, die wir unsere Namen gegenseitig aus der Schüssel gezogen hatten, uns überlegt, wie wir die Lehrerin auf die Palme bringen konnten.
Werten Freund nannten wir damals liebevoll „den Hurensohn“. Wir waren in unserm jugendlichen Leichtsinn nicht nett. Aber ehrlich.
Jedenfalls schenkte er mir vor den Augen der Spanischlehrerin eine rohe Kartoffel, die ich ohne mit der Wimper zu zucken restlos verzehrte. Im Gegenzug schenkte ich dem Hurensohn einen von Herzen kommenden Tritt ins Gesäß mit meinen Josef Seibel Ledertretern der Schuhgröße 50.
Die Stimmung war festlich, die Lehrerin entsetzt und wir beide rollten Tränen lachend auf dem Boden hin und her. Retrospektiv kann ich mir nicht erklären, was genau wir an dieser Situation witzig fanden, aber aufgrund der schieren Absurdität treibt es mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht, wenn ich daran zurück denke. Der Hurensohn ist mittlerweile vollzeitarbeitslos. Gott sei Dank kommt er nicht nach seiner Mutter!
Das dritte mal Wichteln, bei dem ich Spaß hatte, war in der Oberstufe. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits mit dem Beinamen „der Grinch“ versehen worden, auch ganzjährig, weil einfach meine liebreizende Weihnachtsstimmung zu keiner Jahreszeit versteckt blieb. Ein altbekanntes Muster zeichnete sich ab: In einem auf einer romanischen Sprache basierenden Sprachkurs wurde der kulturelle Zwang des Wichtelns unter Androhung körperlicher Gewalt von der Lehrkraft durchgesetzt.
Ein gewieftes Mädel aus meinem Französischkurs zog zu jener Zeit meinen Namen aus dem Bottich und schenkte mir vor den Ferien ein Damen-XS-Shirt mit der Aufschrift „I <3 X-mas“ sowie eine Miniatur-Weihnachtsmannmütze, die man sich mithilfe einer Haarklammer am Kopf befestigen konnte.
Da saß ich also im Oberstufenraum, den massiven Oberkörper eines kräftigen 2-Meter-Mannes von einem Damen-XS-Shirt in einen bewegungsunfähigen Dauerkrampf gezwungen, mit einer Miniatur-Weihnachtsmütze auf dem Schädel, dazu eine wirklich wenig begeisterte Miene und musste mich als das Weihnachtsmaskottchen des Jahrgangs einmal mit jedem ablichten lassen. Also Humor hatte das Mädel schon.
Dieses Jahr war ich unkreativ, weil ich die Person nicht gut kannte, der ich ein Geschenk besorgt hatte. Aber der Gutschein vom dm scheint bei den Damen immer irgendwie ins Schwarze zu treffen. Sie war dann froh, dass ich ihr keinen Kitsch, sondern etwas verwertbares gekauft hatte. Ich bekam sogar eine Umarmung von ihr.
Ich wusste zwar nicht warum, aber unser Bürokomplex hatte eine Notfalldusche für Chemieunfälle, die konnte ich dann benutzen, um ihren Weihnachtsgeruch nach Zimt, Bratapfel und Glühweinerbrochenem wieder von meiner Kleidung zu bekommen. Anschließend war ich dann bereit, mein Geschenk entgegen zu nehmen. Ausgerechnet von der Chefin! Ich rechnete schon mit einem Vorrat an Heftklammern für den Tacker oder einem Schlüsselanhänger aus dem Souvenirshop der Firma, aber ich wurde positiv überrascht:
Die Frau schenkte mir eine Packung Weihnachtscappuccino (ungelogen der beste, den ich je getrunken habe) und eine Papierrolle mit einer nachdenklichen Kurzgeschichte drauf geschrieben. All das mit der Anmerkung, dass sie meine Religion des Grinchismus akzeptierte und mir deshalb ein Geschenk machen wollte, das so wenig weihnachtlich war, wie möglich. Und damit kannte sie meine Präferenzen schon besser als meine eigenen Eltern!
7. Dezember 2021
Meine Mutter wollte nach der Arbeit den Weihnachtsbaum holen. Mein Vater sei zu faul, sie selbst zu schwach, sie bräuchte unbedingt mich.
„Der verliert bis Heiligabend alle Nadeln“, meinte ich. Brachte nichts.
Meinen Golf wollte ich nicht vollnadeln, den wusch ich sowieso schon selten genug. Den Nissan Juke meiner Mutter wollte ich nicht fahren, den hätte ich vermutlich nur wieder absichtlich im Halteverbot abgestellt, um ihn loszuwerden. Also knüpfte ich meinem unter Tränen stehenden Vater den Schlüssel für seinen Touran ab. Er wusste genau, dass ich die Automatikschaltung in den Sportmodus umschalten würde, weshalb die Karre im Endeffekt 10 Milliliter Sprit mehr auf 100km verbrauchen würde. Ich sah die vierte Haushaltsgeldkürzung für diesen Monat schon auf meine Mutter zukommen, aber wenn sie mich unbedingt bei der Tannenbaumauswahl dabei haben wollte, musste sie damit klarkommen.
Wir brauchten etwa dreizehn Milliarden Jahre um dann eine Nordmann-Tanne zu finden, die vielleicht 1,30 hoch war, aber untenrum die Grundfläche eines Fußballfeldes abdeckte. Weil dem Holzfäller, der die Tannen verkaufte, beide Hände sowie rund drei Viertel seiner Zähne fehlten, musste ich das Ding dann auch noch selbst durch diese komische Netz-Verpackungsröhre drücken. Versucht ihr mal, ein Fußballfeld an Ästen und Zweigen gleichzeitig durch ein einzelnes Abflussrohr zu drücken.
Während der Fahrt ist dann ein Teil des Netzes gerissen, sodass mir permanent drei grüne, verharzte Nadelzweige aufs Fressbrett schlugen. Gerade als der eingepackte Nadelbaum auf das Pflaster der Einfahrt schlug, meinte meine Mutter, dass der ja eigentlich noch ein paar Tage hinterm Haus liegen könnte, bevor wir ihn aufstellten.
Weil ich dieses Teil aber jetzt auch nicht im Alleingang einmal ums Gebäude schleppen wollte, trug ich den Baum einhändig und unter dem ständigen Gequengel meiner Eltern einfach quer durch Flur und Wohnzimmer und warf ihn von dort aus auf die Terrasse.
Meine zwei Alten echauffierten sich darüber, dass das halbe Haus nun mit grünen Nadeln bedeckt sei. Meine Katze und meine kleine Schwester freuten sich aber darüber, denn sie begannen schon die Nadeln spielerisch weiter im Haus zu verteilen.
„Beruhigt euch“, meinte ich, „Inner Woche sieht's hier eh so aus.“
8. Dezember 2021
Meine Mutter hatte mich zu sich gerufen. Sie lag im Zwist mit meinem Vater, der dachte, es wäre eine Kluge Idee, meine Mutter damit zu überraschen, den Weihnachtsbaum alleine aufzustellen. Ich sollte jetzt schlichten oder was?
Den Ständer hatte er erfolgreich kaputt gemacht, deshalb wurde der noch im Netz befindliche Weihnachtsbaum einfach nur so an die Hinterwand des Esszimmers gelehnt, sodass er ungehindert sein Harz auf die blass-violette Tapete abtropfen konnte.
Dazu hatte Vater einfach wahllos irgendwelchen Christbaumschmuck daran aufgehangen, der farblich nicht ansatzweise zueinander passte. Anstatt einer Christbaumspitze hatte mein Vater eine Weihnachtsmann-Mütze über den Baum gestülpt.
Ich stand noch mit voller Wintermontur im Türrahmen, als ich das Folgende beobachten durfte: Von meiner Schwester aufgeschreckt, huschte meine Katze einmal flink am Christbaum vorbei unter das Sofa. Sie übertrug dem Baum dabei genügend Impuls, um ihn zu Boden fallen zu lassen. So gut wie alle Christbaumkugeln zerbrachen beim Aufschlag in zahlreiche, silbrig glitzernde Scherbchen.
„Früher war mehr Lametta“, kommentierte ich nüchtern und drehte mich auf dem Absatz um, ehe meine Mutter auf die Idee kommen konnte, mich ins Saarpark-Center zu schleppen, um neue Kugeln zu kaufen. Schnell weg.
9. Dezember 2021
Meine Mutter schleppte mich ins Saarpark-Center. Kugeln und Geschenke kaufen. Ich kann nicht viel darüber berichten, denn ich hatte vorher meine Sinne mit einer Flasche violetter Listerine betäubt, um diese Äonen andauernde Tortur voller hässlicher Dekorationen und krampfhaft-seelenloser Weihnachtsmusik auszuhalten.
Einmal hat meine Mutter mich dem Kaufhaus-Weihnachtsmann auf den Schoß gesetzt. Abgesehen von einem Oberschenkelhalsbruch (Ich wog ca. 120kg) hatte der Mann nun ein Trauma fürs Leben. Ich erzählte diesem armen Menschen, der sich eigentlich nur nebenbei etwas dazuverdienen wollte, wie hammergeil Listerine reinhaut, wenn man sonst nie Alkohol zu sich nahm.
Zum Abschluss bekam ich aber in alter Familientradition noch einen Fleischkäsweck mit Sprite, so wurde das immer schon gemacht, wenn wir ins Saarpark-Center fuhren.
10. Dezember 2021
Der Baum sollte endlich richtig aufgestellt werden. Neuer Baumständer, neue Kugeln, alles war besorgt. Mutter wollte mich aber unbedingt dabei haben, damit mein Vater nicht zu viel Scheiße fabrizieren konnte. Was folgte war eigentlich genau wie bei den Griswolds:
Vater war dabei, das Netz aufzutrennen. Er rechnete nicht damit, dass ein auf die Dicke eines Abflussrohrs komprimiertes Fußballfeld aus Nadeln und Geäst sich schlagartig ausbreiten würde, sobald man ihm die Gelegenheit dazu gäbe.
Fazit: Mein Vater wurde quer durch den Raum geschleudert und landete auf dem Tisch, auf dem wir die neuen Christbaumkugeln abgestellt hatten. Ich muss eigentlich nicht mehr sagen, als dass die Tanne das ganze Wochenende lang noch ungeschmückt dastand.
11. Dezember 2021
Samstag. Weihnachtsmarkt. Entweder ich begleitete meine Mutter auf den Weihnachtsmarkt, oder ich konnte den ganzen Abend lang auf meine kleine Schwester aufpassen und Vater würde sie begleiten. Nach dem Durchfall-Desaster im Frühjahr fiel meine Wahl auf den Weihnachtsmarktbesuch im Dorf.
Der ist auch nicht mehr das, was er mal war. Ich erinnere mich daran, wie ich hier einst als kleiner Wölfling am Pfadfinderstand bis tief in die Nacht die Stellung gehalten und den Leuten frische Crêpes zubereitet hatte. Gegen Entgelt, versteht sich. Ich war von Oben bis Unten mit Crêpeteig eingesaut gewesen, hatte aber 'nen riesen Spaß als junger Bub – Hauptsächlich weil ich damals schon gut kochen konnte und meine Eltern mal 'nen Abend lang los war. Irgendwann war ich allerdings alt genug um zu erkennen, dass besagter Pfadfinderverein keine Spur von Sozialkompetenz besaß und durch ihr Gruppenverhalten eine gewisse Ähnlichkeit zur Hitlerjugend aufwies. Das ist kein schlechter Scherz, das ist die Wahrheit. Und weg war ich.
Im Jahre des Herrn 2021 gab es keinen Crêpe-Stand mehr, keinen Suppenstand, nicht einmal den saarlandtypischen Rostwurststand. Kein Roter im Ganzen Weck für mich.
Stattdessen reihte sich Glühweinstand an Glühweinstand, weil es in der heutigen Zeit nicht mehr um Gemeinschaftsgefühl ging, sondern rein darum, sich so schnell und so hart wegzuballern, wie nur möglich. Als Lutz Maurer auf der Bühne dann noch die Ortskapelle ankündigte, half mir auch mein frommer Atheismus nicht weiter. Die klimperten und schepperten eine schlechte Kopie von Mariah Careys „All I Want For Christmas Is You“ vor sich hin, also fragte ich am nächstbesten Glühweinstand, ob die nicht auch 'ne Flasche heiße Listerine für mich hätten.
12. Dezember 2021
Ich hatte den ganzen Tag meinen lila Listerine-Kater auskuriert, mehr gibt’s da nicht zu sagen. Bis ich auf die Idee kam, eine grüne Konter-Listerine zu kippen, war's dann aber auch schon später Nachmittag.
13. Dezember 2021
Endlich wieder Arbeiten. Die Hälfte meiner Kollegen war schon im Urlaub und die Zeit auf der Arbeit waren achteinhalb Stunden täglich weniger, die ich mich mit dem Schmücken eines Weihnachtsbaumes auseinandersetzen musste. Das Jahresendgeschäft boomte zwar und sorgte für eine hohe Auftragslage, aber so hatte ich wenigstens eine Ausrede, um nicht mit den verbleibenden Kollegen darüber sprechen zu müssen, was sie ihren Lieben dieses Jahr zum Umtauschen schenken. Ich meine, zu Weihnachten.
14. Dezember 2021
Mutter hatte nochmal neuen Christbaumschmuck gekauft. Muss ich weitererzählen? Kaum hing die letzte Kugel am Weihnachtsbaum, gab es einen Ruck und alle vertrockneten Nadeln fielen zu Boden. Aus der Wut heraus pfefferte meine Mutter den noch geschmückten, aber kahlen Baum auf unsere gepflasterte Gartenterrasse. Kein Baum, nochmals kaputte Christbaumkugeln, aber dafür jede Menge Nadeln.
15. Dezember 2021
Ich hatte keine Lust mehr. Also noch mehr keine Lust mehr als am 1. Dezember schon. Deshalb überzeugte ich meine Mutter davon, online einen Weihnachtsbaum zu bestellen und den liefern zu lassen. Nein Mama, kein Plastik. Nein Mama, kein billiger China-Mist. Nein Mama, mit Amazon Prime spart man sich auf www.nordmanntannenfachmann.de keine Versandkosten. Nein Mama, der Baum wird nicht schon geschmückt geliefert, aber um mir eine weitere Tour ins Saarpark-Center zu ersparen bestelle ich die Kugeln auch online.
16. Dezember 2021
Es schneite mal wieder, sogar richtig viel. Wegen dem Schneechaos bekam ich von der Arbeit aus sogar die Erlaubnis fürs Home Office. Geiler Scheiß. Es blieb mir trotzdem nicht erspart, die tägliche Zwangsvisite bei meinen Eltern vorzunehmen (also ich war derjenige, der gezwungen wurde).
In der genauso wie der Rest der weiten Welt zugeschneiten Einfahrt stand mein keuchender Vater mit der Schneeschaufel. Er hatte bereits Eiszapfen an den Nasenlöchern. Vom Küchenfenster aus beobachtet ihn meine Mutter.
Ich gesellte mich mit einer Tasse heißer Schokolade zu ihr und fragte sie, was der alte Mann bei diesem Schneetreiben da draußen machte. Sie sagte, er habe bereits um 5 Uhr morgens mit dem Schneeschippen begonnen, wegen der Räum- und Streupflicht. Am Ende einer Sackgasse. Bei einem ganztägigen Schneesturm. Wenn er endlich am einen Ende der Einfahrt angekommen war, war das andere längst wieder zugeschneit. Das Doofe an der Situation war, dass er den Eimer mit Streusalz nicht mehr wiederfinden konnte, weil der auch schon eingeschneit war.
„Lass den mal“, sagte ich zu meiner Mutter, „Wir können froh sein, wenn der überhaupt mal was schafft. Der soll sich jetzt schön müde machen, dann schläft er heute Nacht wenigstens durch.“
„Wenn ich Glück habe, schneit es morgen so weiter“, fügte meine Mutter hinzu.
17. Dezember 2021
Mein erster Urlaubstag. Weil ich aber wegen dem vielen Schnee am Vortag nicht mehr nach Hause gekommen war (primär weil ich Heizkosten sparen wollte), hatte ich bei meinen Eltern im Gästezimmer übernachtet – also meinem alten Kellerzimmer.
Ich war gerade aufgestanden und genoss im dicken Winterpulli meinen morgendlichen Milchkaffee mit etwas Kakaopulver und einem guten Schuss Listerine, da wunderte ich mich über die Abwesenheit meiner Katze. Sie war nirgendwo im Haus zu finden, also warf ich einen Blick nach draußen. Kniehoch lag der Schnee auf der Terrasse und drückte die eingefrorene Silhouette meiner kleinen Miezekatze gegen die Glasscheiben der Terrassentür. Stimmt ja: Weil mein Vater zu faul war, immer in den Katzenkeller runter zu tappen, um der Katze Futter zu geben, stellte er die Dose dann des Geruchs wegen vor die Terrassentür. Doof nur, wenn draußen Minusgrade sind. Von so einem Katzenfutter-Leckstein hatte die arme Mieze gewiss nicht viel.
Im Sommer war es aber auch nicht wirklich besser, denn wenn man ihr dann draußen Fressen hinstellte, kam meist der gut gebaute Steroiden-Igel aus der Nachbarschaft vorbei, verpasste meiner Mieze eine Tracht Prügel und aß dann ihr Futter auf.
Lirum, larum, Löffelstiel: Ich verbrachte diesen wunderschön eingeschneiten Freitagmorgen damit, mit dem Föhn meine Katze aufzutauen.
Bevor ich aber einen weiteren Tag eingesperrt mit meinen Eltern verbringen musste, kämpfte ich mich abends lieber Stück für Stück mit meinem Golf durch die Schneemassen nach Hause. Ich hatte dem Ding nicht umsonst eine Schneefräse in den Kühlergrill eingebaut.
18. Dezember 2021
Der Schnee war langsam am Abtauen, man konnte definitiv wieder auf die Straße gehen. Oder fahren. Ich machte an diesem Tag eine Schneewanderung um den Fischweiher vor meiner Haustüre. Ich mochte es, wenn alles so weiß und friedlich war. Alles eingeschneit, die Hektik der menschlichen Zivilisation war zum Stillstand gekommen und man hatte auch draußen seine Ruhe. Die erfrischenden Minusgrade kämpften mit meiner Körperwärme um die Überlegenheit, als ich die schneebedeckten Wege so entlang wanderte. Leise lief meine Lieblingsmusik auf den Kopfhörern, ein älterer Herr kam mir entgegen und grüßte mich freundlich.
Er erinnerte mich daran, wie ich als kleines Kind und auch bis vor einigen Jahren noch immer wieder mit meinem Opa um diesen Fischweiher spaziert war. Ich wohnte jetzt in seinem alten Haus direkt in der Nähe, aber er war halt nicht mehr da.
Ich wanderte durch den Wald hinter dem Weiher nach oben, auf die eingeschneite Pferdekoppel, von wo aus man das Kraftwerk sehen konnte. Das Kraftwerk und die Kinder, die hier Schlitten fuhren, erinnerten mich an meinen Onkel, der mich als kleines Kind immer mit in den Winterurlaub nach Bichlbach in Tirol genommen hatte. Morgens Semmel essen, dann den ganzen Vormittag Schlittenfahren, auch wenn sein Rücken das kaum noch mitgemacht hatte, nachmittags im Streichelzoo und abends in die Sonnalm, Röstkartoffeln essen. Aber auch der war nicht mehr da.
Wenn ich mir die Aussicht so ansah, dann war's aber nicht schlimm, dass die beiden nicht mehr da waren. Sie haben mir alles beigebracht, was sie konnten und so wie sie für mich da waren, konnte ich jetzt für andere da sein, wenn ich gebraucht wurde. Auch wenn's manchmal echt nervt. Es half mir ein bisschen, auszuhalten.
Abrupt wurde dieser Gedankengang entzwei gerissen, als eine dieser kleinen Blagen mir mit seinem Schlitten gegen das Schienbein fuhr. Den Schmerz ignorierend blickte ich den kleinen grimmig an, der war keine 10 Jahre alt.
„Lauf“, grummelte ich, bevor ich mir einen Haufen des herumliegenden, thermisch energiearmen Dihydrogenmonoxid schnappte, es sphärisch komprimierte und mittels ballistischer Kraft im Gesicht des Jungen zum Zerbersten brachte. Mit anderen Worten: Ich habe dem Spacken volle Lotte einen Schneeball in die Fresse gerotzt. Der Junge fiel mit dem Gesicht nach unten in den Schnee.
„Arschloch“, rief er mir entgegen. Die heutige Jugend wird auch immer frecher.
19. Dezember 2021
Der absolut legendärste Tag des ganzen Dezembers. Nicht etwa, weil es der vierte Advent war, nein, mein Cousin und ich trafen uns während der heiligen Messe vor der katholischen Kirche St. Paul. Er fuhr mit seiner Harley an, ich mit dem Golf. Wir trugen beide unser Weihnachtsoutfit: Coole Sonnenbrille, rotes Shirt, schwarze Lederjacke, blaue Jeans und dicke Stiefel.
Die Tür kriecht 'nen Tritt, herein kommen... wir beide. Der Organist, also der Typ, der die Orgel spielte, unterbrach sein wildes Spiel. Die ganzen alten Leute, die sich noch in die Kirche trauten, drehten ihre Köpfe zu uns, wie wir im hellen Schein des Eingangs standen.
Mein Cousin legte AC/DC mit „Hells Bells“ auf seinen Ghettoblaster. In Slowmo marschierten wir beide zum Altar nach vorne. Entsetzen machte sich im Gesicht des Pastors breit, als er uns beide, die Weihnachts-Terminatoren, herannahen sah. Der wusste genau was ihm blühte, sollte er sich wehren.
Er meinte nämlich damals nach meinem Kirchenaustritt, dass ich ja die ganzen Privilegien der katholischen Kirche verlieren würde, also zum Beispiel das Zahlen von Kirchensteuer, und nochmal drüber nachdenken sollte. Nach einer kurzen, gewaltsamen Auseinandersetzung hatte ich ihm klar machen können, dass es ein Privileg für ihn sei, dass ich ihm die Osterkerze nicht tiefer in den Allerheiligsten geschoben hatte. Blaue Flecken hatte der arme Kerl immer noch.
Ich verdrängte ihn vom Rednerpult, dann klopfte ich zwei mal auf das daran angebrachte Mikrofon, um dessen Funktionalität zu testen. Funktionierte einwandfrei.
„Ihr schuldet mir noch 31 Mark für den Kirchenaustritt“, knurrte ich gefährlich ins Mikro, „Ich hab fucking 31 Euro dafür bezahlt, um aus einer Religion auszutreten, an die ich nicht glaube.“
Verängstigt von meinem Auftritt, forderte der Pastor den Spendenkorb aus der Menschenmenge zurück und entnahm daraus den von mir geforderten Betrag. Ich hielt ihm allerdings weiterhin die Hand offen hin, er blickte fragend zurück.
„Plus Spesen“, sagte ich, „Ich komme ja schließlich nicht umsonst hierher.“
Er rückte noch einen Zwanni raus. Ich schlug die Bibel vor mir auf und blätterte ein wenig.
„Erstes Buch Satan, Kapitel vier, Verse 1 bis 36. Die Schöpfungsgeschichte“, sprach ich zu den Menschen, „Am erschde Daa hat de liewe Hergott es Licht aangeknipst, sonschd sidd ma jo nix. Die nägschde fünf Daache hat de liewe Hergott uff da Grub geschafft. Am sibde Daach hat er sich e Flasch Bier uffgemach und geschwenkt. Vor viernehalb Millione Joor is de Planet Erde entstann. In der Ursupp, die do dursch die Weltmeere gefloss is, hann sich so langsam Proteine zusammegeschloss unn es erschde Läwe is entstann. Die Ursupp nenne mir heidzedaachs das Urpils. Karlsbersch Urpils. Uff dem Planet Erde hat de liewe Herrgott es Paradies geschaff, Lyonerring 1, 66121 Saarbrigge, aach bekannt als de Schwamm. Do wachsd de Worschd vonn da Deck. Dann hat er zwei Leid hingeschickt, de Heinz unn es Hilde. Die hotte alles gehatt, durfte alles esse unn trinke wie se Luschd hotte. Im Hof hat e Nordmann-Tann gestann, de Chrischdboom der Erkenntnis. 'Verlieren bloß nit die Chrischdboomspitz', hat de Chef denne zwei vergliggert. Unn wie enns zum annere kummd, hott es Hilde die Chrischdboomspitz verleeht gehatt. Der liewe Herrgott is uff äänmol fuchsdeiwelswild wor unn hat die zwei rausgeschmiss. Unn von doo an hann mir Saarlänner widda müsse uff da Grub schaffe, um uns unser täglich Brot ze verdiene.“
Ich klappte die Bibel wieder zu.
„Die Fürbitten“, kündigte ich an und machte Platz für meinen Cousin. Der trat an den Altar heran, schluckte einmal tief und rülpste dann mit voller Kraft und über gut 10 Sekunden hinweg ins Mikrofon.
„Vielen Dank für deine inspirierenden Worte, Bruder Thomas“, übernahm ich wieder, „Orgelmann, spiel 'Highway to Hell' von AC/DC!“
Mit entsprechender musikalischer Untermalung marschierten wir durch die voll besetzte Kirche zurück zu den Eingangstüren.
„Alleh dann, mir siehn uns Nägschdjoor“, rief ich dem Pastor zu und schmetterte dann die Türen hinter mir zu.
Völlig fassungsloses Publikum, gelungene Vorstellung.
20. Dezember 2021
Die online bestellten Christbaumkugeln kamen bei meinen Eltern an. Weil Familie Sparheinz aber lieber für 'nen Euro weniger von Hermes liefern ließ anstatt über DHL, hatte der Lieferant mit dem Paket auf dem Weg hierher wohl Fußball gespielt und man konnte die Scherben bereits klirren hören, wenn man das Paket in der Hand hielt. Stand ja auch nur einmal „Vorsicht! Zerbrechlich“ drauf, kann man ja mal überlesen. Hermes ist halt aber auch der Götterbote der griechischen Mythologie. Dass der ein Problem mit erzkatholischem Weihnachten hat ist mir irgendwie klar.
21. Dezember 2021
Ich wunderte mich an diesem Tag, dass ich nicht von und zu meinen Eltern gerufen wurde. In der Weihnachtszeit? Wie konnte das sein? Die beiden sind doch sonst schon nicht alleine lebensfähig! Schwermütig traf ich also die Entscheidung, selbst bei denen nachzusehen.
Schon im Flur hörte ich das Gequietsche des Akkordeons meines Vaters aus dem Kellerzimmer und sein aggressives Stapfen im Takt der Weihnachtsbäckerei. Mutter hatte ihn vermutlich dorthin verbannt, damit sie hier oben ihre Ruhe hat. Man hätte ihm vermutlich auch ein altes Bügelbrett zum Auf- und Zuklappen in die Hände drücken können, das hätte denselben Übungseffekt bei ihm gehabt und wäre zeitgleich sehr viel leiser gewesen.
Ich trat in das spärlich beleuchtete Wohnzimmer hinein, wo meine Mutter mit der Katze im Schoß und meiner Schwester im Arm dick eingemurmelt auf dem Sofa lag und das Erste schaute. Und da hatte ich gleich auch schon den Beweis, dass meine Mutter kurz vor der 60 und damit kurz vor dem Altwerden stand: Im Fernsehen lief „das Weihnachts-Ekel“, ein Film mit Fritz Wepper in der Hauptrolle. Eine mit der Auftaufunktion einer Mikrowelle aufgewärmte, moderne Iteration der klassischen Ebenezer Scrooge-Weihnachtsgeschichte, bei der der grantige und weihnachtsscheue Protagonist irgendwann sein Herz erwärmt und doch noch Spaß an der grün-rot-goldenen Massenhysterie hat.
Ich musste mich dann natürlich erst mal selbst von meiner Mutter als Weihnachtsekel bezeichnen lassen, aber wenigstens war das ein zutreffenderer Begriff als bloß „Grinch“. Wenigstens sah ich mir keine Fritz Wepper-Filme an.
Zugegeben, ich war mit – 7 Dioptrien ziemlich blind, hatte aufgrund meiner Größe ständig Rücken- und Knieschmerzen, sollte mit 22 bereits meinen ersten Bandscheibenvorfall bekommen und wegen meiner Gewohnheiten beim Musikkonsum war ich ab und zu etwas schwerhörig, außerdem schlug mir mein Google-Feed ständig Rezensionen von der Lindenstraße vor. All das waren kräftige Indizien, dass ich nicht erst Mitte zwanzig, sondern gut und gerne schon 65 Jahre alt war. Nur die Tatsache, dass ich mir Fritz Wepper nicht ansehe(n kann) bestätigte mir, dass ich noch jung und frisch war. Der Typ sieht aber auch schon seit 70 Jahren gleich aus, keine Ahnung wie der das macht, den haben meine Urgroßelten zu Lebzeiten ja schon geschaut. Der ist einfach mit 70 auf die Welt gekommen und keinen Tag gealtert.
„Harry, fahr den Wagen vor!“ Mit diesem Satz kündigte ich mein Verschwinden vor meiner Mutter an und – wie man jetzt vielleicht damit rechnet – verschwand wieder.
22. Dezember 2021
Die Ruhe vor dem Sturm. Ich weigerte mich, irgendwas zu tun. Um mich mental auf die bevorstehende Strapaze des Heiligen Abends vorzubereiten, verbarrikadierte ich mich in meiner Wohnung, schlürfte den ganzen Tag heiße Schokolade und daddelte an meinem Rechner. Ich verspeiste nichts anderes als Lebkuchen und Mutters trockenen Asbeststollen von 2005 (Ihr wisst ja, schmeckt wie ein Frotteetuch, aber endlos haltbar). Ich verlor mich so sehr in den virtuellen Welten, sodass ich die Zeit vergaß und erst in tiefster Nacht zu Bett ging.
23. Dezember 2021
Der online bestellte Tannenbaum war noch nicht angekommen und meine Eltern schoben Panik. Man kann ja Weihnachten nicht ohne Baum feiern! Das geht ja gar nicht! Bevor mein Vater dann aber die Birke aus dem Nachbarsgarten abholzte und mit einer Weihnachtsmütze ins Wohnzimmer stellte, brachte ich ihm lieber Opas alten Plastik-Weihnachtsbaum, der noch irgendwo in meinem Keller verpackt stand.
Wir hatten zwar keine Kugeln zum dranhängen, weil die Paketboten von Hermes immer Freistöße mit ihren Paketen üben, aber dafür reichlich Lametta. Letztendlich deckten wir dieses Plastikbäumchen mit so vielen Lagen güldenem Lametta ein, dass man die grünen Plastiknadeln nicht mehr erkennen konnte.
„So viel Lametta war früher jetzt aber auch nicht“, kommentierte ich das Erscheinungsbild des Baumes.
Der liebe Herrgott wollte es scheinbar in diesem Jahr nicht, dass wir einen Weihnachtsbaum aufstellen und ich bin ihm zutiefst dankbar dafür. Ich glaube zwar nicht an seine Existenz, aber wissenschaftlich erklären lässt die Sache sich für mich auch nicht. Es konnte sich nur um eine göttliche Fügung handeln.
Was sich wissenschaftlich erklären lässt ist, warum uns nicht mal ein Plastikbaum gegönnt war: Mein Vater hielt es für eine Gute Idee, den lamettierten Baum mit Kerzen anstatt nicht-entzündlichen LEDs zu versehen, denn das schüfe ja eine viel heimischere Atmosphäre.
Kaum brannte die erste Kerze, fing das Lametta schon an zu schmoren und bald stand der ganze Baum lichterloh in Flammen. Kaum stand der ganze Baum lichterloh in Flammen, schreckte das meine darunter liegende Katze auf, deren Fell dann natürlich sofort Feuer fing. Kaum fing das Fell meiner Katze Feuer, raste die kreischend durch das Wohnzimmer und steckte so die Gardinen in Brand.
Die Abschlusskalkulation: Wir hatten in diesem Jahr einen Verschleiß von zwei Weihnachtsbäumen, davon einer echt, drei Sets Christbaumkugeln, einer vollen Stange Vorhänge, sowie einer Katze. Glücklicherweise hatte letztere noch mindestens 3 ihrer 7 Leben übrig.
24. Dezember 2021
Heiligabend. Ich tat genau das, was ich mir vorgenommen hatte. Ich würde auch kein Deut davon abweichen wollen. Pünktlich um 18h 00 traf ich in meinem Weihnachtsaufzug bei meinen Eltern ein: Jogginghose, Feinripp-Unterhemd mit Fettflecken vom Vortag und Vaters alte Badelatschen an den Füßen.
Mein Vater sah sich wie jedes Jahr bis zur letzten Minute bevor die Gäste kamen noch das Weihnachtsfernsehen an. Während ich aus meiner Kindheit noch solche Klassiker wie Rudolf das Rentier mit der roten Nase oder Weihnachten bei Petterson und Findus, mit verwertbarer Story und einer herausziehbaren Lehre kannte, lief heutzutage nur immer wieder dieselbe Geschichte mit anderer Aufmache im Fernsehen. Irgendwelche abgehalfterten, zwanghaft interkulturell-modernen Weihnachtskomödien, die mehr traurig als witzig anzusehen waren. Also nicht traurig im Sinne von emotional, sondern traurig im Sinne von traurig, dass die Qualität so gesunken ist.
Aber der Fernseher rückte ziemlich schnell in den Hintergrund, als mein Vater bemerkte, in welchem Aufzug ich aufgetaucht war.
„Weißt du denn nicht, was heute für ein Tag ist?“, fragte mich mein Vater völlig außer sich, nachdem er endlich damit aufgehört hatte, wie das HB-Männchen wütend im Wohnzimmer auf und ab zu springen.
„Freitag?“, antwortete ich vorsichtig. Meine Mutter warf sich schon die Hand vors Gesicht. Wenn ich zugehört hätte, könnte ich jetzt berichten, was in dem darauf folgenden Monolog meines Vaters alles enthalten war, aber ich hatte halt nicht zugehört. Es ging wohl um sowas wie Manieren, Tradition, Glaube und dass man sich ja am Heiligen Abend ausnahmsweise mal nicht aufführen müsse, sondern sich mal zusammenreißen und ordentliche Kleider anziehen könnte. Für mich ist aber nicht Heiligabend. Für mich ist Freitagabend. Der hat zwar für mich eine gewisse Heiligkeit, allerdings ereignet er sich in einer so hohen Regelmäßigkeit, dass das Tragen spezieller Freitagskleidung nicht gerechtfertigt erscheint.
Also, da stand mein Vater vor mir, der sich ohne die Hilfe meiner Mutter nicht alleine anziehen kann, erbost und erzürnt, entgegen aller christlichen Werte, und hält mir einen Vortrag, nein: schreit mich an, dass man sich am Fest der Feste gefälligst zusammenreißen und nicht aufführen soll, so toll wie er es gerade vormachte.
Ich lachte ihm nur kopfschüttelnd entgegen und entnahm dem Kühlschrank ein Bier.
Nach und nach traf endlich die Verwandtschaft ein und scharte sich um den Esszimmertisch. Im Vergleich mit den Vorjahren waren nicht mehr so viele da, also durfte ich einmal Reihum zuhören, wie jeder das Gefühl bekam, alt zu werden. Ich, als neutraler Beobachter, konnte zweifelsfrei bestätigen, dass es sich tatsächlich um Alterserscheinungen handelte, denn mindestens 70% der Anwesenden sahen sich Fritz-Wepper-Filme an.
Nach dem die erste Klatsch-, Tratsch- & Beschwerde-Runde vorbei war, gab es endlich Essen. In diesem Jahr zauberte meine Mutter: Warme Geflügelwiener mit Senf und Brötchen, das Weihnachtsessen schlechthin.
Ein Trend, der sich bereits durch die letzte Dekade angekündigt hatte: 2012 gab es noch die klassische Weihnachtsgans, 2013 den Karpfen, 2014 einen stabilen Rollbraten, 2015 bis 17 Hackbraten, also ein- und denselben, weil meine Mutter sich mit dem Hack etwas verkalkuliert hatte, 2018 kaltes Büffet, 2019 Tütensuppe, 2020 fiel Weihnachten wegen Corona aus, niemand hatte es, aber Vater wollte das Geld für die Geschenke sparen, 2021 gab es dann jetzt wenigstens warme Wiener. Was kam nächstes Jahr? Tiefkühlpizza?
Nachdem ich 36 Wiener verspeist und mir mit einer Tube Senf die Zähne geputzt hatten, gingen wir über zum Singen der Weihnachtslieder. Meine Mutter teilte also jedem die selbstgebundenen Texthefte aus, während mein Vater sein Akkordeon präparierte. An der Stelle fehlte mir wirklich mein Opa, denn der hat nicht nur immer mindestens eine halbe Oktave drüber oder drunter gesungen, sondern meist nicht mal den richtigen Text. Das war wenigstens unterhaltsam.
Für mich bleibt das einzig gute Weihnachtslied „Christmas Truce“ von Sabaton – weil sich die Leute darin ausnahmsweise Mal nicht an die Gurgel gehen. Last Christmas ist musikalisch gesehen auch nicht schlecht, wird einem aber zu sehr aufgezwungen.
Nach dem Singen kam endlich die Bescherung. Mein Vater bekam ein Heft mit Musiknoten: Die größten Hits von Pink Floyd in C-Dur für das Akkordeon, Anfängerniveau. We don't need no education am Arsch, ein bisschen Edukation ist gerade in dieser Familie Mangelware. Die Tante mit der Pumuckl-Frisur bekam einen Kamm und einen Friseurgutschein, mein Cousin eine Bibelhalterung für seine Harley Davidson, damit er seine Lieblingsverse auch von unterwegs rezitieren konnte. Meine Mutter bekam eine eigene Eierlikördestille von meinem Vater, weil das Zeug selber herzustellen war schließlich billiger als immer die teuren, abgefüllten Flaschen zu kaufen.
Meine Mutter konnte meiner Aufforderung, mir einfach mal nichts zu schenken und mich stattdessen zu unterstützen, wenn ich es wirklich brauchte, nicht nachkommen und steckte mir einen Fünfziger zu. Freut sich wenigstens der Tierschutz, wenn ich denen die Kohlen später spende. Immerhin dulden die kommentarlos alles, was ich meiner Katze antue.
Meine Schwester bekam das neuste Barbie-Wohnhaus mit allen möglichen Sets als Einrichtungsgegenständen. Das Spielzeug kostete gut und gerne so viel wie ein echtes Haus, dabei fragte ich mich, was meine professionelle Windelbefüllerin einer Schwester genau mit solch komplexen Spielzeugsets anfangen soll. Wäre mein Onkel noch da, hätte der gewiss mehr Spaß am Aufbauen, als meine Schwester. So hat der das schon mit meinen Lego-Sets damals gemacht, während ich gelangweilt daneben saß und zusehen musste, bis er endlich kapiert hatte, dass ich das Ding ohne Anleitung viel schneller zusammen bekommen hätte.
Nach der Bescherung packte ich mir noch ein paar Wiener Würstchen in Brotboxen und verpisste mich schnellstmöglich vom Weihnachtsfest. Sollen die alten Leute ihren Spaß haben. Auf dem Heimweg schneite es. Der Himmel war nicht ganz dunkel, sondern zeigte Spuren orange-roter Lichtverschmutzung. Die warmen Farben der Straßenlaternen vermochten die -10° draußen nicht ganz so eisig wirken zu lassen. Ich entschied mich, nicht direkt nach Hause zu fahren, sondern parkte das Auto kurz an der Pferdekoppel und stapfte ein paar Meter durch den Schnee. Ich überblickte das Tal und beobachtete auf der anderen Seite das Kohlekraftwerk Weiher Block III, das zum ersten mal seit der eigentlichen Stilllegung 2017 wieder voll beleuchtet und im Betrieb war, damit die Leute ihre Lichterketten beleuchten können. Kohlrabenschwarze Schneeflöckchen rieselten auf mich herab und lösten sich bei Kontakt zu meiner Jacke sofort in Asche auf.
Klar war das scheiße, wenn dieses uralte Kohlekraftwerk wieder Abgase in die Luft blies, weil unserer verdammten Bundesregierung und den ganzen alten Knackern sowieso Sößchen ins Höschen tropft, wenn die an erneuerbare Energien denken. Natürlich wäre ich der erste, der mit der Spitzhacke auf der Schulter vor den Türen der RAG stehen würde, um sich als Grubengasprobeschmecker freiwillig zu melden, sobald die Grube Göttelborn wieder die Pforten öffnet.
Aber dieses Kraftwerk hatte abseits seines kulturellen Wertes und als ehemalige Arbeitsstätte meines verstorbenen Vaterfiguren-Onkels eine symbolische Bedeutung für mich. Ich habe in meinem Leben viel kämpfen müssen und letztendlich gewonnen, deshalb geht es mir jetzt gut. Ich hatte selten Hilfe, eher Gegenwind und trotzdem bin ich immer wieder aufgestanden und habe gezeigt, welches Potenzial in mir steckt. Genauso wie dieses Kraftwerk wieder angeknipst wurde, weil man es gebraucht hat. Weil es den Ort und den Großraum in den letzten 105 Jahren mit Energie versorgt hat.
Nicht falsch verstehen, in meinen Augen ist Kohleenergie brutaler Schrott, aber wie dieses Kraftwerk fühle ich mich missverstanden: Es ist weder die Kohle noch das Kraftwerk, das die Luft verpestet, es sind die Leute, die es benutzen. Es bin weder ich das Problem, noch Weihnachten. Es sind die Leute. Deshalb hasse ich Weihnachten.
Die Leute können sich nicht entscheiden, ob sie gegen Kohleenergie protestieren oder lieber die Lithiumakkus ihrer Smartphones aufladen wollen, aber solange sie sich selbst nicht an die eigene Nase greifen müssen, ist es egal, über was davon man sich beschwert. Letztendlich gibt es aber diese eine Zeit im Jahr, in der man so tun kann, als sei man der liebste Mensch auf Erden, ein Engel, ein Gesandter der Göttlichkeit, welche Form die auch immer haben mag. Dabei übertünchen Viele nur, dass sie den Rest vom Jahr auch nichts geschissen kriegen. Deshalb hasse ich Weihnachten.
Hasse ich Weihnachten wirklich? Ja und nein.
Ich habe noch Erinnerungen an Weihnachten in meiner frühen Kindheit: Es begleitet einen den ganzen Monat lang dieses Gefühl, dass jeder Tag etwas Gutes bringt. Am 24. früh morgens aufstehen und gemeinsam mit Papa Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga im Zweiten gucken, dann kam irgendwann noch Familie Griswold und der Polar-Express. Ich erinnere mich sogar, dass wir mal einen richtigen Modell-Polar-Express aufgestellt haben, der ständig unseren Tannenbaum umkreist hatte und gelegentlich von der Katze umgestoßen wurde. Mittags hat's angefangen zu schneien, sodass dann abends, wenn die ganze Verwandtschaft ein dickes Karnickel am fressen war, draußen ein halber Meter Schnee lag. Dann gab's Bescherung. Während die Männer Karten spielten und die Frauen in ihre Gespräche vertieft waren, durften die Kinder ihr neues Spielzeug ausprobieren.
Dieses Gefühl der Unbeschwertheit und der Zusammenkunft ist es doch, was wir alle haben wollen, aber nur selten haben können. Falsch. Wir, als Menschen, ketten dieses Gefühl an Weihnachten oder sonstige Festivitäten und stellen viel zu hohe Erwartungen. Wir erwarten, dass uns alle Last genommen wird, dass wir von anderen Menschen aus Prinzip besser behandelt werden, weil gerade wieder diese Zeit des Jahres ist. Dabei vergessen wir völlig, dass wir selbst zu faul sind, anderen entsprechend gegenüber zu treten – und schon bricht das ganze Kartenhaus zusammen. Niemand braucht eine besondere Zeit, um sich solidarisch zu verhalten, um zu Geben, um freundlich zu sein und sich für andere zu interessieren. Niemand braucht eine besondere Zeit, um Familie und Freunde zu versammeln. Niemand braucht Material oder bedeutungslose Geschenke, solange deutlich wird, das man wertgeschätzt wird. Ich halte mich das ganze Jahr über ziemlich gern daran – und bin glücklich damit. Ja, ich bin ein sarkastischer Bastard mit derbem Humor, das stimmt, aber ich helfe meinen zwei alten Trotteln zuhause ja trotzdem, oder?
Wie man diese Werte umsetzt ist völlig egal, also gern auch weihnachtlich, solange man nicht den Schritt zum kulturellen Zwang geht und vor allem darauf achtet, dass Weihnachten nicht für jeden eine angenehme Zeit sein muss, nur weil man es „das Fest der Liebe“ nennt. Zwingt niemandem Weihnachten auf, nur weil ihr das Bedürfnis nach einem „Weihnachts“-Gefühl habt und in einem verzweifelten Schwung der Nostalgie versucht, sorgenfreie Zeiten wiederaufleben zu lassen.
Fakt ist: Es gibt kein Weihnachtswundergefühl. Also es gibt es schon, aber nicht wegen Weihnachten. Das ist auch nicht bloß „meine Meinung“, das ist auch nicht bloß „für mich“ so, das gilt grundsätzlich. Einige Menschen machen nur gerne den Fehler, dieses Gefühl mit Weihnachten in Verbindung zu bringen und werden enttäuscht, wenn es an Weihnachten selbst nicht klappt. Wenn man aber versucht, dieses „Weihnachtswundergefühl“ in seinem täglichen Leben zu finden und es auch anderen Menschen zu bringen, hat man gleich viel höhere Erfolgschancen. Meine Botschaft ist eine einfache: Lebt das Weihnachtsgefühl das ganze Jahr und versucht es gar nicht erst so zu nennen.
So, jetzt ist aber auch mal gut, bevor mir selbst noch das Kotzen kommt. Hat einen Grund, warum ich anderthalb Jahre an dieser Scheißgeschichte geschrieben habe. Ich habe meinen Frieden mit Weihnachten gefunden. Aufregen tu ich mich darüber lange nicht mehr. Aber vielleicht habe ich mit dieser Geschichte zwei Dinge erreicht:
Erstens, dass mich die Leute ein bisschen mehr verstehen, wenn ich sage, dass ich Weihnachten nichts abgewinnen kann und mich nicht mehr völlig verdutzt mit ihren Hundewelpenaugen ansehen und fragen „Wieeeesooooo?“.
Zweitens, euch Leser trotz meines üblichen, krankhaften Humors ein bisschen zum Nachdenken angeregt habe. Ihr sollt gar nichts an euren Weihnachtsgewohnheiten ändern. Nur ein bisschen mehr Weihnachtlichkeit in den Rest des Jahres fließen lassen. Und einen anderen Begriff finden, denn wenn wir bald das ganze Jahr Weihnachten haben, wandere ich auf einen anderen Planeten aus.
19. April 2022
Ostersonntag. Nach einem kurzen Blick aus dem Küchenfenster bei meinen Eltern bestätigt mir die aktuelle Wetterlage: - 6 °C und leichter Schneefall. Aufgrund des Klimawandels war es im Saarland mittlerweile längst zum Standard geworden, dass die Schneewahrscheinlichkeit an Ostern höher war, als in der Weihnachtszeit. Meine Mutter hatte ihren krankhaften Zwang, alles mit rosa Osterdekorationen einzudecken, in vollen Zügen ausgelebt und ich litt bereits körperlich wie mental darunter. Ich konnte nur froh sein, dass man an Ostern traditionell keine Osterlieder trällert, denn sonst wäre mein Vater wahrscheinlich schon wie wild die „Osterbäckerei“ auf dem Akkordeon am üben. Es klingelte an der Tür.
Ich öffnete dem Männchen in blau-schwarzer Hermes-Uniform. Er hielt eine Mannshohe Nordmann-Tanne neben sich, an der ein Etikett von www.nordmanntannenfachmann.de flatterte.
„Hat etwas gedauert, weil das gute Stück erst aus China eingeflogen werden musste und der Zoll über Weihnachten nicht im Dienst war“, erklärte mir der Paketbote und streckte mir den Stamm des Tannenbaums entgegen.
„Naja, für 'nen Euro mehr hätte DHL den schon im März gebracht“, antwortete ich und knallte dem Götterboten die Tür vor der Nase zu.
Frohe Weihnachten!
Comments