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Frau Roggenforst

  • Autorenbild: The Machine
    The Machine
  • 19. Dez. 2023
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 10. Apr. 2024

(Denn schließlich hat sie mich ja eingestellt)

 

Ich bin geil. Also eigentlich bin ich sogar noch viel mehr als das, aber es existiert kein irdischer Wortschatz, der es in irgendeiner Form auszudrücken vermag, wie geil ich eigentlich bin. Und schon nach dem zweiten, geschriebenen Satz dieser Geschichte muss ich sagen, dass das selbst für mich ein neues Level an Großkotzigkeit ist. Die Tatsache, dass ich mich überhaupt traue, sowas zu schreiben ist eigentlich schon Beweis genug, dass diese gewisse Frau R. zu stark auf mich abgefärbt hat. Aber zurück zum Thema:

Ich bin geil. Ich bin der King. Ich bin das Nonplusultra. Aber es gibt jemanden, dem ich sogar eingestehen würde, dass sie das Nonplusultra plus Ultra ist… Naja manchmal zumindest. Wenn ich nicht da bin. Die Rede ist von Frau Roggenforst.

Die Frau Roggenforst, die die Eier(stöcke) hatte, um mich, den Satan der sarkastisierten, unterschwelligen Ehrlichkeit, darum zu bitten, also mit anderen Worten: herauszufordern, doch mal eine Geschichte über sie zu schreiben. Da sie wahrscheinlich noch meine einzige, aktive Leserin ist, die sich diesen Mist hier antut: Bitte sehr, Bühne frei!

Um zu erklären, wer diese Frau Roggenforst ist und wie sich meine Beziehung zu ihr gestaltet, muss ich etwas ausholen. Außerdem, so glaube ich, ist es besser für die Nerven des Lesers, wenn ich ihren Charakter nur scheibchenweise serviere.

 

Kapitel I: Auftritt Roggenforst (2021)

Es begab sich im Jahre des Herrn 2021, als ich mich des Frühjahres auf meine jetzige Arbeitsstelle bewarb. Man darf sich an der Stelle gerne wundern, dass ich mit meinen mir selbst zugeschriebenen Fähigkeiten nicht längst selbst-replizierende Banknoten erfunden habe und tatsächlich voll berufstätig bin, aber ohne Herausforderung ist das Leben ja langweilig, oder? Außerdem könnte ein jeder Arbeitgeber in irgendeiner Weise von meiner Anwesenheit profitieren.

Und genau so hab ich mich bei der Bewerbung verkauft. Ich brauchte nicht mal fragen, ob man mich nehmen würde, denn die entgleisten Gesichtszüge der mich interviewenden Personalerin, sowie ihre sperrangelweit offen stehende Fressluke machten mir eindeutig klar: Ich hab den Job.

Bevor das Bewerbungsgespräch allerdings zu Ende war, griff die Personalerin nach dem roten, altmodischen Telefonhörer, der ganz am Rande ihres Schreibtisches stand und hob ab. Da das Telefon weder Wahlscheibe noch Tasten hatte, mutmaßte ich, dass es sich wohl um eine Standleitung sofort in den Kreml handeln musste. Das war mir eigentlich schon wieder zu viel des Guten, denn eigentlich hatte ich mich als Büromanager beworben, nicht als zukünftiger Herrscher des wiederauferblühten russischen Zarenreichs.

„Schicken Sie die Roggenforst“, blieb der einzige Satz, den die Personalerin in die Sprechmuschel sprach. Sie und ich starrten uns ein paar Minuten peinlich schweigend an. Da ich noch keine Aufforderung erhalten hatte, das Bürogebäude zu verlassen, verblieb ich starr sitzend in meiner Position.

Schließlich öffnete sich die Tür, aber nichts weiter als eine grau-weiße Rauchwolke flog in den Raum hinein. Weil ich selbst ein Lulatsch von etwa 2 Metern bin, fällt es mir leider selten direkt ein, dass nicht jedermanns Augenhöhe bei 1,90 liegt. Als ich dann mal auf etwa 1,60 im Türrahmen nachgeschaut hatte, entdeckte ich endlich die Person, die für die Rauchbildung verantwortlich war.

Da stand eine kleine Brünette mit einer qualmenden Zigarette zwischen den Fingern. Drinnen. In einem Bürokomplex mit massenweise Papier. Und Teppichboden. Sie trug ein weinrotes Top, darüber eine schwarze Lederjacke und einen Rock aus Jaguarfell. Darunter eine schwarze, halbdurchsichtige Strumpfhose und dicke, große Lederstiefel. Es war jedenfalls ein starker Kontrast zu dem zarten Blazer der Personalerin und meinem blauen Marvelis-Businesshemd.

„Du hast gerufen, Schnuckelchen?“, sagte die Frau, oder eher: das Fräulein mit einer so tiefen Raucherstimme, dass ich mir für einen Moment unsicher war, ob da nicht doch Optimus Prime im Türrahmen stand.

Die Personalerin präsentierte ihr meine Bewerbungsunterlagen, meine Testergebnisse und die Notizen, die sie sich während des Bewerbungsgespräches gemacht hatte.

„Ich erkenne bei dem Herrn für unsere Arbeit leider nur wenige verwertbare Eigenschaften“, drückte es die Personalerin diplomatisch aus und schielte aus dem Augenwinkel kurz zu mir herüber.

Brummend studierte die Roggenforst die Dateien. Dann musterte sie mich mit strengem Blick. Ich reagierte mit einem nichtssagenden Blick zurück und hob lediglich fragend die rechte Augenbraue.

„Meine Augen sind hier oben“, sagte sie und deutete sich selbst ins Gesicht. Beinahe wäre ich frech geworden, denn aus meiner Perspektive lässt sich 1,60m nach wie vor nicht als „oben“ bezeichnen. Das ist ja nicht mal auf dem Weg dahin. Aber rein theoretisch lag das bei ihr immer noch oberhalb der üppigen Oberweite (grade so), also ließ ich das mal als „oben“ durchgehen.

„Wenn Sie keinen Push-up tragen würden, könnte ich Ihnen auch ins Gesicht sehen“, sagte ich trocken.

„Ha!“, lachte die Roggenforst laut, „Ich trage heute nich mal nen BH!“

„Respekt“, sagte ich und nickte ihr anerkennend zu.

Die Roggenforst drückte der Personalerin wieder die ganzen Akten in die Hände.

„Einstellen! Das‘ genau unser Kaliber“, sagte der kleine Optimus Prime schließlich. Dann machte die Dame mit dem Leopardenrock auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder im Flur. Die Rauchwolken, die sie hinter sich her zog erinnerten mich an eine Folge Eisenbahn-Romantik.

Ich richtete meinen Blick wieder auf die Personalerin, die resignierend ihre Hände vors Gesicht geworfen hatte und wohl gerade am Weinen war.

„Gratuliere, wir nehmen Sie“, flennte sie mich an, „Sie dürfen gehen.“

Ruhig erhob ich mich von meinem Sitz. Bevor ich das Büro aber verließ, klopfte ich der Personalerin noch einmal tröstend auf die Schulter und sagte: „Keine Sorge, es kommt nicht auf die Größe an. Ihre sind auch ganz toll!“


 

Kapitel II: Das Teammeeting (2022)

Ich arbeitete nun schon eine Weile hier. Die Wege von Frau Roggenforst hatten sich schon des Öfteren mit den meinen gekreuzt, meist drückte sie mir dann ein „Ich hab dich immerhin eingestellt!“ rein. Aber so wie dieses eine Mal hatte ich noch nicht mit ihr zu tun gehabt.

Teammeeting war angesagt. Da stand der Abteilungsleiter vor versammelter Mannschaft von 30 bis 40 Leuten, als die Roggenforst wieder einmal gekonnt die Bühne betrat: Dieses Mal in einem Michael-Jackson-artigen Aufzug mit schwarzen Lackschuhen, einer Anzughose mit Tigermuster, einer weinroten Bluse und einem schwarzen Blazer. Ihre Brüste hatte sie mit Hosenträgern runtergeschnallt, sodass man ihr Gesicht fast vollständig sehen konnte. Zwischen den Fingern trug sie eine angezündete Kubanische.

„Keine Fragen wegen der Sonnenbrille, ich war gestern feiern. Ich weiß, dass man die laut Kleiderordnung hier drinnen nicht tragen darf“, sagte der kleine Michael Jackson mit der Stimme von Darth Vader. Es war übrigens Mittwoch.

„So schlimm verkatert?“, fragte der Abteilungsleiter, Adrian Seif, aus Spaß und deutete dabei auf die Sonnenbrille.

„Nee, Schlägerei“, stellte die Roggenforst klar und paffte einmal an der Zigarre, „Kater bekommt man nur, wenn man wieder aufhört zu saufen.“

Der Abteilungsleiter versuchte nicht weiter darauf einzugehen und erklärte uns dann, warum die Roggenforst als Gast geladen wurde. Sie suchte jemanden, der sie ins Hauptquartier für eine wichtige Konferenz begleiten sollte.

Normalerweise war die Roggenforst die Begleitung für James Tiberius Schäfer, der eigentlich von der Frisur her eher aussah wie ein Jean-Luc Schäfer, aber wenn man ihm das mitteilte, wurde er immer grantig. Die zwei waren irgendwelche mittelhohen Tiere, die für diese Meetings immer durch die Lande ziehen durften. James T. konnte diesmal wohl nicht, war krank oder so. Und weil sich abrupt niemand freiwillig gemeldet hatte, kam die Roggenforst dann zu uns in die Abteilung.

Sie erklärte uns kurz, wie die Geschäftsreise ablaufen würde und welche Aufgaben man hätte, aber es meldete sich im Endeffekt niemand dafür. Die Roggenforst ließ ihren Blick durch die Runde wandern. Sie zeigte den Blick, den Führungskräfte immer zeigten, wenn sie kurz davor waren, von ihrem Direktionsrecht Gebrauch zu machen. Natürlich stoppte sie ihre Durchsicht der Mitarbeiter adhoc bei mir. Ihr ernster Blick verwandelte sich in ein breites, ja fast schon schelmisches Grinsen.

Sie quiekte meinen Namen in einer hohen Frequenz, die ich ihrer Raucherlunge nicht mehr zugetraut hatte. Vielleicht hatte dieser Anflug von Wiedersehensfreude ja endlich die Teerbeschichtung ihrer Stimmbänder lösen können.

„Nein“, sagte ich sofort und bestimmt.

Sie neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite, stetig weiter grinsend, um mir zu signalisieren, dass sie diese Antwort nicht akzeptieren würde.

„Sag den Satz“, seufzte ich resignierend.

„Ich hab dich schließlich eingestellt“, lachte sie mich an.

„Könntest du zur Abwechslung nicht mal sowas sagen wie 'Luke, ich bin dein Vater‘?“, fragte ich.

Sie meinte schließlich, dass ich genau das richtige Maß an Respektlosigkeit für unser Hauptquartier hätte. Ich bedankte mich für das Kompliment und sagte ihr die Reise zu.

Ein erleichtertes Aufatmen ging durch alle verbleibenden Mitarbeiter (inklusive des Abteilungsleiters Herrn Seif). Die Roggenforst zog mich dann noch eine halbe Stunde aus dem Tagesgeschäft, um mit mir die Einzelheiten durchzugehen. Sie würde mich dann morgens in aller Frühe mit dem Dienstwagen abholen, damit die Straßen frei seien und wir rechtzeitig im Hauptquartier unserer Firma ankämen.

 


Kapitel III: Das Hauptquartier (immer noch 2022)

Wenige Tage später war es dann so weit. Um punkt 4h 23 morgens wurde ich von einem unidentifizierten Wummern im Bass-Frequenzbereich geweckt. Ich suchte durch die Fenster meiner Wohnung nach einer Quelle für das Wummern, konnte aber nichts ausfindig machen. Klang fast so, als wäre auf dem Wasgau-Parkplatz die Straße runter wieder ein Open Air, aber sowas macht man ja wohl kaum unter der Woche morgens um 4.

Mich störte die Lärmbelastung allerdings wenig, denn in wenigen Minuten hätte mein Wecker sowieso geklingelt. Ich bereitete mich für die anstehende Geschäftsreise vor, duschte mich, packte meine Sachen und zog mir Kleidung an, die einem Besuch im Hauptquartier eines Milliardenschweren, internationalen Unternehmens würdig ist. Während des gesamten Vorbereitungsprozesses musste ich feststellen, dass das Wummern stetig lauter wurde.

Um etwa 5 Uhr war das Wummern so laut, dass die Lichter in den Häusern der ganzen Straße angingen und ich sogar überlegte, mir zwischenzeitlich Ohrstöpsel reinzustecken. Ich wartete am Fenster auf die Ankunft von Frau Roggenforst.


Schließlich fuhr ein Mercedes-Benz GLA 250 die Straße entlang, den ich als Quelle der Lärmbelästigung identifizieren konnte, und hielt genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor meinem Haus. Die Scheiben waren alle milchweiß, also konnte ich nicht hinein sehen.

Größtenteils war das Fahrzeug schwarz lackiert, Motorhaube und Kofferraumklappe jedoch in weinrot. Außerdem trugen die Felgen ein Leopardenmuster. Ich konnte mir also denken, wer in diesem Auto saß.

„Komm raus, bin da. ~ J. Roggenforst“, erreichte mich eine Nachricht auf WhatsApp.

„Die ganze Straße weiß, dass du da bist“, textete ich zurück und bezog mich dabei vor allem auf den Nachbarn, vor dessen Haus sie geparkt hatte, der mit nichts weiter als Unterhose und Feinripp-Unterhemd sowie einem Paar Ohrschützer am Leibe am offenen Fenster stand und grimmig auf die Straße hinaus starrte.

Als ich mich dem Fahrzeug endlich näherte und dabei die energiegeladenen Blicke der verärgerten Nachbarschaft im Rücken spürte bemerkte ich, dass die Scheiben des Fahrzeugs gar nicht aus Milchglas bestanden, sondern das Innere des Fahrzeugs total zugedampft war.

Nachdem ich eingestiegen war, ließ Frau Roggenforst Scooter noch einmal „How much ist the fish?“ brüllen, bevor sie die Anlage so leise stellte, dass man sich einigermaßen unterhalten konnte. Aufgrund des Nebels im Fahrzeug konnte man die Hand vor Augen nicht sehen, geschweige denn raus auf die Straße. Wie zur Hölle war die Frau denn bis hierher gefahren?

Diese moderne Karre würde ja fast von alleine fahren, mit Navi, Spurhalteassistent, Tempomat, Abstandhaltesystem und so weiter, meinte sie dann. Könnte die Karre dann nicht auch alleine an der Konferenz teilnehmen?

„Hoffentlich schaffen wir es bis Stuttgart bei dem Nebel. Davon war jedenfalls nichts im Wetterbericht“, ertönte Morgan Freemans Stimme neben mir. Sehen konnte ich dort ja niemanden. Dann hörte ich ein Feuerzeug angehen und ein leises Blubbern vom Fahrersitz aus. „Ich fahre seit ich los bin mit Nebelschlussleuchte, aber ich seh trotzdem nix“, schob sie hinterher.

„Das wird dich jetzt überraschen, aber draußen ist gar kein Nebel“, sagte ich nüchtern.

Ein realisierendes „Oh“ erreichte mich aus ihrer Richtung. Sie drückte mir daraufhin ein gläsernes Behältnis in die Hand, das leicht angewärmt war und die Form einer hohen Blumenvase hatte. Sie drehte die Lüftung voll auf und öffnete die Fenster, sodass der ganze Nebel austreten konnte.

„Die Nebelschlussleuchte ist wohl überhitzt es kam zur Rauchbildung“, meinte ich zusichernd und wohlwissend, dass die eigentliche Ursache viel eher ihr exzessiver Drogenkonsum war, „Diese neuen Autos werden auch nicht mehr so gebaut wie früher.“


Als die Rauchschwaden aufklarten, erkannte ich auch erstmals das Ausmaß dessen, wie es im Fahrzeuginneren aussah. Ich hatte mich unwissend in einen Berg Zigarettenstummel gesetzt und hielt eine mit bewusstseinsverändernder Substanz befüllte Bong in meinen Händen. Die drei Getränkehalter waren besetzt von einer Flasche Vodka, einer Flasche Nimm-2-Schnaps und einer Flasche Eierlikör. Ich erkannte Parallelen zu meiner Mutter. Auf den Rücksitzen stapelten sich leere wie volle Flaschen Alkoholika und ein 60l-Sack Tabak. Den Koffer mit den Akten hatte sie dann hoffentlich im Kofferraum verstaut.

Die Fahrt ins Hauptquartier war… erstaunlicherweise sehr angenehm und unterhaltsam. Vielleicht bin ich von den ganzen Konzertfahrten mit meinem Vater nur abgehärtet, aber ich glaubte bei den gemeinsamen Unterhaltungen mit Frau Roggenforst ein gewisses Maß an Verbundenheit zu spüren.

Trotz dem, dass wir ziemlich unterschiedliche Charaktere waren, gab sie mir als eine der wenigen Personen ein Gefühl des Willkommenseins. Und wir hatten beide einen ähnlich krankhaften Humor, aber ich glaube das brauche ich an dieser Stelle schon gar nicht mehr zu erwähnen.


Ankunft im HQ. Ein wirklich imposantes Gebäude, groß und modern mit riesiger Tiefgarage, hätte sich nicht die Konkurrenz genau gegenüber niedergelassen und ein Gebäude gebaut, das exakt ein Stockwerk höher und eine Abstellkammer breiter war als das unserer Firma, um zu markieren, wer den längeren (und dickeren) hat.

Sobald wir die Karre abgestellt hatten, öffnete die Roggenforst den Kofferraum und entnahm den großen Aktenkoffer, den ich darin vermutet hatte. Wir watschelten hoch ins Gebäude, an der Anmeldung vorbei, durch unzählige Gänge und Flure, bis wir bei dem Konferenzsaal ankamen, der in der Einladung stand. Wider Erwarten wurden wir nicht von einer Horde an Anzugträgern erwartet. Die Leute stellten sich sogar mit dem Vornamen vor und man bot mir sofort das Du an.

Udo trug noch seine Sportsachen vom morgendlichen Tennis und ein schweißgebadetes Stirnband. Susanne hatte noch den rosa Morgenmantel an, die Lockenwickler in den Haaren und gemessen an ihrer mit (vermutlich) Kaffee befüllten Tasse, auf der das Logo von Jack Daniels aufgedruckt war, war sie wohl auch noch nicht richtig wach. Theodor trug aus einem mir unbekannten Grund, der sich nicht ähnlich rational herleiten ließ wie bei den anderen, einen neonfarbenen Spanndex-Anzug. Also so ein Teil, wie man sich als in den 2000ern geborener Mensch die Modetrends der 80er-Jahre vorstellt. In der Garderobe hing sogar eine militärische Uniform mit einer Schutzbrille und einer schusssicheren Weste, nur ich konnte sie abrupt niemandem der anwesenden eindeutig zuordnen.

Ich fühlte mich mit meinem blauen Marvelis-Hemd etwas fehl am Platze, aber vielleicht war das halt einfach meine Eigenart, die mich an diesem Tisch besonders machte.

Für das was Frau Roggenforst angekündigt hatte, war die Konferenz schnell gegessen: Ordnungsgemäß, rechtskonform und zügig wurden alle Tagesordnungspunkte von Konferenzleiter Udo abgeklappert, von Protokollantin Susanne dokumentiert und von Gast Theodor kommentiert. Unser Job war es lediglich, bei allem die Perspektive unseres Standortes zu erörtern.

Nachdem erst der halbe Tag vorbei gegangen war, kam die Konferenz schon zum Ende, dabei hatten wir noch nicht mal in unsere Aktenkoffer reingeschaut. Warum hatten wir die gleich mitgebracht? Diese Frage wurde mir von Frau Roggenforst schnell beantwortet, allerdings nicht mit Worten.

Sie öffnete den Koffer und entnahm die Einzelteile einer Schusswaffe, die sie geübt zusammenschraubte. Bis sie den Behälter für die Paintballkugeln aufschraubte glaubte ich, dass wir die ganze Zeit tatsächlich ein echtes M16A4-Sturmgewehr durch den Südwesten Deutschlands transportiert hatten. Ich ließ meinen überraschten und gleichweise schockierten Blick durch den Konferenzraum wandern und musste zu meinem Erstaunen feststellen, dass niemand der Anwesenden meine Verwunderung teilte. Im Gegenteil: Alle schraubten sie gerade ihre aus Aktenkoffern entnommenen Paintball-Waffen zusammen.

Udo ein klassisches Repetiergewehr, Susanne beschränkte sich auf eine kleine, süße 9mm mit Schalldämpfer, aber Theodor musste natürlich übertreiben und das Vulcan-Geschütz auspacken. Ich konnte nicht mehr anders und musste einfach fragen, was es jetzt damit auf sich hatte.

„Hä? Was soll die Frage?“, wunderte sich Frau Roggenforst.

„Wir haben im Hinterhof einen Paintballplatz und noch den halben Tag Zeit, was denkst du was wir hier tun?“, lachte Udo herzhaft.

Und so liebe Kinder werden im modernen Deutschland strategische Entscheidungen in milliardenschweren Unternehmen getroffen. Ah, und bevor ich's vergesse: Im Hauptquartier gabs natürlich - im Gegensatz zu den anderen Standorten - eine Kantine, wo wir auf Kosten der Firma speisen konnten. War sogar richtig lecker.


In den Abendstunden wurde ich also von einem zugenebelten GLA mit wummerndem Bass wieder zuhause abgesetzt und die Nachbarn durften beobachten, wie ich von oben bis unten mit bunter Paintballfarbe bedeckt, aber mit einem dicken Lächeln im Gesicht, über die Straße zu meiner Haustür schlurfte und der GLA letztendlich mit überhöhter Geschwindigkeit davondüste.


 

Kapitel IV: Das Sommerfest (2023)

Man kannte sich jetzt schon eine Weile und verstand sich gut, da dachte ich mir, dass ich die Roggenforst auch mal zu meinem familientypischen Sommerfest einladen könnte. Da waren diesmal nicht nur andere Arbeitskollegen eingeladen, sondern auch allerlei andere Bekanntschaften, sogar welche aus meiner Schulzeit, also wurde es wenn schon besonders chaotisch.

Ein bisschen fühlte ich mich schon unter Druck gesetzt, denn schließlich musste ich der Roggenforst, dem Party-Tier (von der Hose her wahrscheinlich ein Party-Leopard) schlechthin, beweisen, dass auch ich dazu in der Lage bin, einen durchaus passablen Abend zu bereiten. Moment mal – ich hielt bei diesem Gedanken buchstäblich inne – Wollte ich gerade erstmals jemand anderem als mir selbst etwas recht machen?! Freiwillig?!? Ach du Scheiße, so weit hatte sie es getrieben!

Ich war zutiefst überrascht, als Frau Roggenforst erschien, sich ihre Mitbringsel aber lediglich auf einige, wenige Flaschen Wein und selbstgemachten Nimm-2-Schnaps beschränkten. Ich hatte damit gerechnet, dass sie eine Bandbreite alkoholischer Getränke und sonstiger Freizeitdrogen mit sich mitführte, aber nein. Etwa mirzuliebe? Ich muss allerdings unumstößlich zugeben, dass ihre Anwesenheit für die allgemeine Partystimmung sehr förderlich war.

Ich glaube mit ausnahmslos jedem Anwesenden, ob Raucher oder nicht, verschwand sie mal 20 Minuten nach draußen auf die Terrasse zum Quatschen und Qualmen, selbst mein kleines Miezekätzchen ließ sich zu einer Zigarette überreden. Länger als die ersten 5 Minuten hatte die Roggenforst gar nicht am Tisch gesessen. Und selbst meine Mutter zeigte sich beeindruckt, als die Roggenforst binnen weniger Minuten eine ganze Packung Waffelbecher mit Eierlikör und Sahne in sich hineinstopfte.

Die Aufräumarbeiten am nächsten Tage gestalteten sich einfach für meine Mutter und mich – bis wir auf die Terrasse hinaus traten. Das dort befindliche Sideboard, auf dem normalerweise der Aschenbescher für Besucher stand, war begraben unter einem Berg an Zigarettenstummeln. Ich fragte mich, wie es physikalisch möglich sein konnte, dass diese Frau dieses Volumen an Zigaretten unbemerkt mit sich herum führen konnte.

Es kostete jedenfalls ein paar Mülltüten, wir kärcherten tagelang immer wieder durch und trotzdem finden wir bis heute noch hier und da einen Zigarettenstummel im Garten. So sehr wie die Roggenforst qualmte, stand ihrer Karriere als Schockbildmodel für Zigarettenpackungen bald nichts mehr im Wege.


 

Kapitel V: Der Ritterschlag (auch 2023)

Ich wurde von der Roggenforst in meiner Abteilung abgeholt. Herr Seif ließ das auch durchgehen, weil er sich wohl wahlweise von dem Geparden-Muster ihrer Hose oder der qualmenden Tüte zwischen ihren Fingern hatte einschüchtern lassen.

Auf die Frage hin, zu welchem Zwecke ich abgeführt wurde, bekam ich keine Antwort. Lediglich wohin es gehen sollte verriet sie mir: In die 2.

Die 2 war in etwa unser firmeninternes Äquivalent zum Olymp der Götter. Nahezu auf Augenhöhe mit der Geschäftsführung in der 3. Die Roggenforst führte mich also in das Büro von James T. Schäfer.

Man bräuchte eine Nachbesetzung für den Junior-Arbeitssicherheits-Verantwortlichen, oder kurz: JAV, und die Roggenforst dachte sofort an mich, bevor man im Unternehmen nach anderen Interessenten fragen wollte. Schließlich hat sie mich ja eingestellt. Ich war mir zwar sicher, dass das Betriebsverfassungsgesetz das Kürzel der Stelle für nicht ganz so passend gewählt oder gar ungeeignet halten sollte, aber hey: das war meine Eintrittskarte in das Olymp der Götter.

James T. beförderte mich also unter seinem Kommando zum Lieutenant Junior Grade und schlug mich formal zum Ritter. Wäre zwar irgendwie bedeutsamer gewesen, wenn die Roggenforst das gemacht hätte, aber mit 1,60 kommt sie wohl ohne Hilfe nicht an meine Schultern ran. Geil.


 

Kapitel VI: Was lange währt (wahrscheinlich nach 2026)

James T. Schäfer ist mittlerweile aufgrund von einsetzendem Altersstarrsinn in den Zwangsruhestand versetzt worden – immerhin hatte er seinen Posten die letzten 65 Jahre am Stück behalten dürfen. Die Roggenforst ist für ihn nachgerückt und ich für sie.

Ich sitze also mit ihr in ihrem Büro, die Füße über Kreuz auf ihrem Schreibtisch abgelegt, ne dampfende Tasse mit Kaffe in der Hand. Am Leibe trage ich Kleider fast ausschließlich in schwarz, aber recht lässiger Stil. Zwar Jeans, aber Sneaker und Weste darüber und ein Shirt von Sabaton.

Plötzlich klingelt das alte, rote Telefon auf dem Schreibtisch von der Roggenforst. Sie dreht sich in James T.'s altem Kommandostuhl einmal um ihre eigene Achse, um an das Telefon heranzureichen. Sie hebt ab und hört sich an, was man ihr zu sagen hat.

„Du sollst mal rüber in die Personalabteilung“, informiert sie mich.

„Dein Wunsch sei mir Befehl, schließlich hast du mich ja eingestellt“, antworte ich fröhlich und die Tatsache anerkennend, dass die Roggenforst von Sekunde 1 an über die ganzen Jahre hinweg meine Mentorin gewesen ist.

Entspannt fülle ich das bereits abgetrunkene bisschen meines Kaffees mit einem doppelten Schisspresso von Roggenforsts eigener Kaffeemaschine wieder auf und begebe mich wie aufgefordert rüber zu HR. Ich öffne die Bürotür und lasse erst einmal den Dampf meines Kaffees die Luft da drinnen erfrischen, bevor ich selber reingehe.

Der Personalerin gegenüber sitzt ein junger Bewerber mit fein gestriegeltem, blauen Business-Hemd. Das kleine, aufgenähte V auf der Brusttasche verrät mir, dass das ein Hemd von Marvelis sein muss.

Die Personalerin präsentiert mir seine Bewerbungsunterlagen, seine Testergebnisse und die Notizen, die sie sich während des Bewerbungsgespräches gemacht hatte.

„Ich erkenne bei dem Herrn für unsere Arbeit leider nur wenige verwertbare Eigenschaften“, drückt es die Personalerin diplomatisch aus und schielt aus dem Augenwinkel kurz zu ihm herüber.

Brummend studiere ich die Dateien. Dann mustere ich den Bewerber mit strengem Blick. Er reagiert mit einem nichtssagenden Blick zurück und hebt lediglich fragend die linke Augenbraue.

„Meine Augen sind hier oben“, sage ich, als ich entdecke, dass sein Blick abschweift, und deute mir selbst ins Gesicht.

„Wenn Sie keine 2 Meter groß wären, könnte ich Ihnen auch ins Gesicht schauen, ohne eine Nackenstarre zu bekommen“, sagt der Bewerber trocken.

„Ha!“, lache ich laut, „Und ich trage heute nich mal nen BH!“

Sofort wird mir klar, dass das keine adäquate Antwort für diese Situation ist, aber was soll’s, ich sitze im Olymp der Götter. Ich drücke der Personalerin wieder die ganzen Akten in die Hände.

„Einstellen! Das is‘ genau unser Kaliber. Und wenn ihr mich jetzt entschuldigt, ich muss schnell in die Fliesenabteilung. Der Schisspresso kickt rein“, teile ich mich mit, mache auf dem Absatz kehrt und marschiere strammen Schrittes und mit zusammengepressten Arschbacken zu den Toiletten.

 

 

Vielen Dank, dass du mein Wegweiser bist.

 

 
 
 

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