Ungesund
- The Machine
- 10. Apr. 2024
- 17 Min. Lesezeit
In meinem Leben ist vieles ungesund. Vor allem ist es ungesund, oder eher: gesundheitsgefährdend, mich darauf aufmerksam zu machen, wie viele Kalorien ich gerade zu mir nehme. Ich bin dreierlei Dinge: Ein Saarländer, unbelehrbar und das dritte habe ich vergessen. Vermutlich war es vergesslich.
Fakt ist: Es ist nicht so, dass ich es nicht schon mehrmals versucht hätte „gesund“ zu leben, allerdings hatte jede dieser Phasen ihre Spuren auf meiner Psyche hinterlassen, bis ich für mich entschieden hatte, dass ich lieber zwanzig Jahre weniger aber dafür glücklich und zufrieden leben möchte. Und abgesehen davon nahm ich weder Alkohol in irgendeiner Form zu mir, wenn ich mich nicht aus Versehen am Mundwasser verschluckte, noch konsumierte ich Tabak. Damit hatte ich zwei der größten Lebensverkürzer schon mal vorneweg ausgeschlossen.
Was ich mir in meinem Leben zurecht lege und welche Philosophie ich mir aneigne ist angesichts meines familiären Umfeldes aber von nachrangiger Bedeutung, denn genau dort sorgt man stets dafür, dass meine Präferenzen bei der Nahrungsauswahl nach bestem Wissen und Gewissen konsequent ignoriert werden.
Genauso wie dieses eine Mal im Jahr 2021. Es war Sommer und ich hatte noch ein paar Wochen bis zum Antritt meiner neuen Arbeit zu überbrücken, bis dahin musste ich mich mit der damals noch eher dürftigen (aber völlig ausreichenden) staatlichen Unterstützung durchschlagen. Es kam also des Öfteren vor, also eigentlich täglich, dass ich bei meinen Eltern zu speisen pflegte. Oder mich viel mehr bei denen durchfraß.
Es war ein düsterer Donnerstag, als alles begann. Es gab Chili. Es war zwar etwas Hackfleischähnliches in der Soße, aber con carne wollte ich es vorsichtshalber noch nicht nennen. Schmeckte ein bisschen wie Hühnchen, das Zeug, hatte aber die Konsistenz von eingeweichtem Sägemehl. Ich konstatierte, dass etwas nicht stimmte, aber es schmeckte mir gut genug, dass ich es nicht weiter hinterfragte. Während ich mir Tortilla um Tortilla mit Grünzeug, Chili und Sonstigem füllte und in mich hineinstopfte, beobachtete meine Mutter mich stumm mit einem stetig wachsenden Grinsen. Als ich mein Gesicht und meinen Oberkörper und auch die von meinem Essvorgang völlig mit Soße zugesaute Küche von ebendieser befreite, sagte meine Mutter nur einen Satz: „Du hast gerade Chili sin carne gegessen.“
Was hatte sie da gesagt? Erschüttert darüber, dass es ihr gelungen war, mich auszutricksen, forschte ich weiter nach. Das, was mir da als Hackersatz vorgesetzt worden war, waren irgendwelche Sojaschnitzel, also kein Hackfleisch. Meine Mutter wusste, dass ich das Chili niemals gegessen hätte, wenn ich gewusst hätte, dass es vegetarisch ist. Sie musste also tricksen, um mich davon zu überzeugen, dass das trotzdem ganz geil schmeckte – was es ja auch tat. Da ich mich strikt carnivor ernährte, hielt ich meiner Mutter einen entsprechenden Vortrag, dass man mir bitte keine fleischfreien Gerichte vorsetzen sollte, da das gegen meinen moralischen Kodex verstieße. Wie sich bald herausstellen sollte, war das nur der erste Schritt eines ausgeklügelten Planes, um mich an einen angeblich gesünderen Ernährungsstil heranzuführen.
Freitag, 12h 15, bei meinen Eltern. Ich wurde diesmal sogar explizit zum Essen eingeladen und ich könnte ja bei Anreise noch einen Umweg über den örtlichen Lebensmittelladen machen, denn meine Mutter hatte mal wieder was vergessen, das Übliche eben. Das Unübliche an diesem Freitag war der spontane Katholizismus, der vom Haushalt meiner Eltern ausging. Es sollte Fisch auf den heiligen Freitag geben. In meinen Augen waren fleischlose Gerichte ein zum Katholizismus gleichwertiges Verbrechen an der Menschheit, aber auf mich hörte ja nie jemand. Meine Mutter war wenigstens Atheistin. Ich hingegen der absolut unheilige Antichrist, der Sohn Satans, eine Ausgeburt der Hölle.
Ich mähe sonntagmorgens um 7 prinzipiell immer den Rasen, nur um die elend lauten Kirchenglocken zu übertönen. Dämlicherweise lag meine Wohnung nur etwa 50m Luftlinie von der nächsten Kirche weg. So wie das Leuten der Kirchenglocken zum Christentum gehörte, so war es Teil meiner Religion, mit ohrenbetäubender Lautstärke am Sonntagmorgen in aller Herrgottsfrühe bloß einen einzigen Quadratmeter Rasen mit einem voll hochtourenden Deutz Fahr Agrotron M620 mit viel zu breitem Scheibenmäher am Dreipunkt-Kraftheber zu mähen. Natürlich war es dann unumgänglich, dass ich im Laufe des Vormittags das geschnittene Gras mit ebenso kraftvollem Gerät zetten und schwaden musste, um es pünktlich zur Mittagsmesse zu einem etwa einen Kubikdezimeter messenden Grasballen zu pressen.
Da ich mich gegen das nervtötende Geläute der Katholiken von nebenan nicht wehren konnte, hatte ich damit wenigstens eine Möglichkeit, meine eigene religiöse Freiheit auszuleben. Und das Ganze kostete mich nur knappe 32,9 Liter Diesel für den Deutz.
Mein Vater tickte da anders als meine Mutter und ich. Der setzte bei allem was er tat auf göttlichen Beistand – ganz ehrlich, so wie er sich bei allem anstellte, würde ich ihm das an seiner Stelle auch raten.
Zurück zum Thema. Schon als ich meiner Mutter dabei zusah, wie sie fettarmen Speisefisch, in diesem Fall Lachs, zusammen mit Reis zubereitete, ließ ich sicherheitshalber schon mal die Friteuse warmlaufen. Reis. REIS! Abgesehen davon, dass der saarländische Rundfunk den unnachgiebigen Drang hat, davon zu berichten, wenn in Fernost ein Sack davon auf den Boden aufschlägt, hatte dieses Korn nicht wirklich einen Verwendungszweck. Wenn man es im Winter in der Einfahrt streute, hielt es diese nicht einmal vom Zufrieren ab.
Die Rechnung war einfach: Wenn ich versuchen wollte, von Reis satt zu werden, so müsste mir mehrere metrische Tonnen durch alle Körperöffnungen einführen und hoffen, dass der Verdauungsprozess noch rechtzeitig abgeschlossen ist, bevor ich dem Hungertod erliege. Und weil meine Geschmacksnerven sich mehr davon stimulieren lassen, wenn ich an einer zugestaubten Raufasertapete lecke, als vom Geschmack von Reis, kriege ich nicht mal ein einzelnes Korn davon runter. Ganz zu schweigen davon, dass ich dieses papptrockene Getreide jetzt auch noch mit salzigem Fisch runterwürgen sollte. Nein, Danke.
Ganz ehrlich, die letzten drei Mal, als die Familie versucht hatte „nachhaltig und gesund“ zu leben, lagen wir alle am Ende wegen Unterernährung im Krankenhaus. Der einzige Grund, warum nachhaltige Nahrung nachhaltiger ist als andere, ist einfach: Sie schmeckt so fade, dass man die Plastikverpackung gleich mitisst, um wenigstens ein bisschen Würze zu spüren. Dann muss man nur noch einmal durch das Regal mit den Nahrungsergänzungsmitteln, deren Herstellung die Umwelt wohl mehr belasten dürfte als der gelegentliche Furz einer Raufutter verzehrenden Großvieheinheit und dann ist man mit normaler Nahrung schon fast gleichauf.
Nach der Information, dass weder Fleisch noch anderes Frittiergut im Hause seien, denn der Haushalt lebe jetzt nachhaltig und gesund, musste ich mit dem Reis vorliebnehmen.
„Es ist immerhin ein Tier dafür gestorben“, versuchte meine Mutter mich aufzumuntern, aber das half nichts. Reis. Bweärgh! REIS! Ohne Soße! Ohne Soße ist ein Essen kein Essen! Ich muss jetzt mal was erklären, falls das nicht schon offensichtlich ist: Ich bin Saarländer. Ich brauche eine Soße zu meinem Essen. Ich kann eine Hauptmahlzeit nicht einfach so trocken zu mir nehmen. Dann könnte ich mir gleich eine Dosis Paniermehl durch die Nase ziehen und den Rest des Tages bewusstlos hinter dem Sofa liegen bleiben. Selbst neben meiner Suppe steht immer eine kleine Schüssel mit Rahmsoße!
Dem aufgrund des Kalkgehalts weißlich schimmernden Leitungswasser ausweichend, suchte ich im Kühlschrank vergeblich nach einer Flasche Sprudel (wer Sprudel als „Mineralwasser“ bezeichnet, darf jetzt aufhören zu lesen und sein Leben überdenken). Ohne Wasser konnte ich auch keine Soße anrühren.
„Du hättest ja am Wasgau vorbeifahren und dir eine Flasche mitbringen können“, antwortete mein Vater auf die Frage, ob Sprudel im Haus sei.
„Ich hätte auch noch Eierlikör“, bot Mutter an, was ich dankend ablehnte.
Den eintausendsechshundertzweiundsiebzigsten Vorschlag, doch das viel nachhaltiger Leitungswasser zu benützen, konnte ich mit zahlreichen Argumenten abwehren. Angeblich sollte es sich um das qualitativ hochwertigste Wasser der ganzen Großregion handeln, allerdings starben schon nach dem ersten Schluck sämtliche nicht schon von Reisgewächsen abgetötete Geschmacksnerven in meiner Mundhöhle. Ein Glas von diesem Leitungswasser hatte mehr Calcium als eine ganze Kanne Milch – aber mein Vater konnte es ja gebrauchen, denn er trank ja seit Neuestem nur noch Mandelmilch (also seit fast zwei Tagen). Hatte ich erwähnt, dass unser Leitungswasser aus den gefluteten Kohlegruben unter dem Ort hochgepumpt wird?
Ich machte mich auf die Suche nach einer Ausweichmahlzeit. Fleisch hin oder her, alles war besser als Reis! Ich fand glutenfreie Nudeln in der Schublade unter dem Herd. Leider bin ich allergisch gegen glutenfreie Erzeugnisse. In einem anderen Schrank fand ich zuckerfreie Cornflakes, die ich mit der laktosefreien Milch im Kühlschrank hätte runterspülen können, aber das wäre kalorienmäßig eine Nullnummer gewesen. Allein die paar Handgriffe, um mir das Zeug in einer Schüssel zusammen zu schütten verbrauchten mehr Kalorien, als ich durch die Nahrungsaufnahme zurückgewonnen hätte.
Es half einfach nichts. Unter Tränen und mit großem Gezeter aß ich den Lachs mit Reis. Jedes einzelne Korn fühlte sich an wie eine Rasierklinge, die mir beim Schlucken meinen ausgetrockneten Rachen aufzuschlitzen drohte. Das Innere meiner Kehle fühlte sich an wie ein spröder, aufgebrochener Wüstenboden. Resignierend löste ich mir im Anschluss eine Calgontablette in Leitungswasser auf, um der Speiseröhrenverkalkung entgegenzuwirken, sodass ich gerade noch so eine Dehydration verhindern konnte.
Samstag. Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich war mir zwar im Klaren, dass ich kein Stück Fleisch auf meinem Teller vorfinden würde, aber vielleicht bestand ja noch eine Chance, dass die Nahrung heute wenigstens bissfest genug war, dass ich meine Kiefermuskulatur auch tatsächlich benutzen musste und darüber hinaus eine Portion eine zwei- oder noch höherstellige Kalorienzahl hatte.
Ich fand meine Mutter in der Küche vor, wie sie gerade eine Ladung Gemüse dünstete. Paprika, Tomaten, Auberginen, Zucchini, Brokkoli. Ohne alles. Gedünstetes Gemüse! Nicht nur hatte dieses Zeug absolut gar keinen Eigengeschmack, sondern bestand fast ausschließlich aus Wasser. Also verbrannte man sich mit jedem Bissen on top noch die Schnauze!
Ich ließ mir diese Farce nicht mehr bieten und übernahm die Kontrolle des Herdes. Ich presste mithilfe eines Kartoffelstampfers das kalkfreie Wasser aus dem Gemüse und kochte mir damit die glutenfreien Nudeln. Die übrige Gemüse-Matschepampe verarbeitete ich mit einigen Gewürzen zu einer halbwegs annehmbaren Soße. Ich war sogar höchst entzückt, als ich den Vorrat an geriebenem Käse im Speisekeller vorfand.
Ich schüttete mir gerade die dritte Packung Parmesan über die Nudeln, als meine Mutter meinte, dass eigentlich gar kein Käse mehr im Haus sein sollte, denn der hätte zu viele ungesunde Fette. Ich untersuchte sicherheitshalber noch einmal die Tüten und musste feststellen, dass in der Handschrift meiner Mutter „Zement“, „Gips“ und „Asbest“ auf den Etiketten geschrieben stand. Warum zur Hölle bewahrt man Baustoffe in Gefrierbeuteln auf?!
„Die hatte ich noch übrig, als ich meinen guten Rührkuchen nach Omas Rezept gebacken hatte!“, meinte meine Mutter. Ach ja, der gute Asbestkuchen. Ihr wisst ja, schmeckt wie ein Frotteetuch, aber endlos haltbar. Der ist so trocken und bindet Wasser so gut, wenn man den anschneidet und in den Keller stellt, hat man einen prima Luftentfeuchter.
Wutentbrannt verpasste ich meinem Teller einen Ruck und verteilte damit meine ruinierte Nahrung auf dem Boden des Esszimmers. Meine die Nudeln vom Boden leckende Katze ignorierend fragte ich, ob es denn wenigstens einen annehmbaren Nachtisch gäbe, dann würde ich heute ausnahmsweise mal den Hauptgang überspringen. „In der Schublade“ hieß es.
Ich verzichtete darauf, meine Familie erneut darüber aufzuklären, was für eine äußerst unpräzise Ortsangabe das war: Ich wusste weder, in welchem Schrank die besagte Schublade sich befand, noch in welchem Raum ich besagten Schrank vorfinden würde. Ich wusste ja nicht einmal ob dieser Schrank sich in demselben Gebäude befand wie ich. Ich würde es meinen Eltern aber auch zutrauen, dass sie ihren Süßkram tatsächlich in der Schublade eines Ausstellungsstücks der Möbelfundgrube aufbewahrten. Oder dass hier irgendwo im Haus eine lose Schublade ohne Schrank drumherum mitten im Raum auf dem Boden lag!
Glücklicherweise war ich schon so ausgehungert, dass meine tierischen Instinkte anschlugen und ich die richtige Schublade im richtigen Schrank im richtigen Zimmer erschnuppern konnte. Ich fand eine Tüte Maisbällchen und eine Packung Mon Cheri vor. Hektisch riss ich die Tüte mit den Maisbällchen auf, sodass einige davon in die Höhe geschleudert wurden und sich im Zimmer verteilten. Ich warf mir gleich eine Hand voll davon in den Mund und biss zu – doch bis auf ein trockenes Lüftchen mit einem leichten Hauch von Gewürz schmeckte ich nichts.
„Das sind gesunde Snacks! Eine tolle Alternative zu fettigen Chips!“, hörte ich meine Mutter aus dem Esszimmer rufen. Ich ließ eines der Maisbällchen über meine Handfläche rollen. Es wog fast nichts. Ich schnipste es in die Höhe und konnte beobachten, wie es sanft wie der Samen eines Löwenzahns auf das Sofa herab segelte und bei Kontakt zum Polster zu einem Flöckchen goldgelbem Staub verpuffte. Ich drehte die Tüte um, um mir die Nährwerttabelle anzusehen. Ich übersah gekonnt, dass ich dabei versehentlich das offene Ende der Tüte nach unten hielt und deren Inhalt ungehindert entweichen konnte. Staubsauger regelt.
„Brennwert pro 100g: Minus 13 Kilokalorien“, las ich ab. Das war einfach nur gewürzte Luft! Vom Hunger getrieben liebäugelte ich mit den Mon Cheri. Ich hasse Alkohol. Dunkle Schokolade ist auch nicht so mein Ding und die schließt sich auch eigentlich mit Früchten, also der Kirsche, für mich aus. Aber was war die Alternative? Ich musste etwas essen. Ehe ich mich versah, hatte ich eins dieser Teile im Mund und zerkaute es.
Mit einem ohrenbetäubenden „Bäh!“ tat ich lautstark kund, dass der Verzehr einer einzelnen Mon Cheri dem Zuendelutschen eines Sagrotan-Spülmaschinentabs geschmacklich gleichkommt. Ich versammelte meine mentale Kraft und schluckte das Teil runter. Ehe ich einen weiteren Gedanken zu Ende fassen konnte, hatte ich bereits die zweite Mon Cheri im Mund. Ein noch lauteres „Bäääh!“ entfuhr mir. Ich dachte kurz darüber nach, ob es nicht doch angenehmer wäre, gleich etwas Vollwaschmittel aus der Packung zu löffeln. Ich schluckte zum zweiten Male unter.
Mein Körper hatte bereits auf Automatik geschaltet und mir den dritten Spültab, ich meine: Mon Cheri, in den Mund gelegt. Schließlich ging es hier um mein Überleben und ich musste zusehen, dass ich endlich etwas zu mir nahm. Da konnte ich nichts mehr dagegen tun. Glücklicherweise betäubte Spültab Nummer drei meinen Mund-Rachen-Raum schon so sehr, dass der Rest der Packung kein Problem mehr darstellte.
Etwas betüdelt von den alkoholhaltigen Schokostückchen torkelte ich ins Esszimmer zurück, ab dann habe ich eine Gedächtnislücke. Mir wurde posthum nur gesagt, dass der Nachbar noch geklingelt hatte, um sicherzustellen, dass ich wohlauf sei, weil er mich so laut „Bäh!“ hatte schreien hören.
Sonntag. Ich hatte meinen Piemont-Kirschen-Kater (kurz PKK) noch nicht ganz auskuriert, als ich so um die Mittagszeit bei meinen Eltern eintraf. Auf Mutters Bitte hin brachte ich den Grasballen mit, den ich an diesem Vormittag mit dem Deutz gepresst hatte. Als sie den dann aber mit etwas Balsamico auftischte, wurde es selbst mir zu viel und ich stapfte genervt und energielos rüber in die Katzenkammer. Ich holte dort die letzte Dose Whiskas vom Regal und kehrte in die Küche zurück. Mein armes Kätzchen verfolgte mich auf Schritt und Tritt in der Hoffnung, dass ich das Katzenfutter für sie bereiten würde.
Sie schenkte mir einen ähnlich schockierten Blick wie der Rest meiner Familie, als ich das Katzenfutter auf einem Teller verteilte und dann in der Mikrowelle erwärmte. Als Nachtisch verzehrte ich eine Schüssel Trockenfutter mit Magermilch. Meine Sinne waren längst so abgeschmirgelt und meine Gefühlswelt so betäubt, dass mich der Geschmack nicht mehr allzu sehr störte. Meine Familie genoss unterdessen ihren Grassalat. Mal ehrlich, von Grünzeug wird man nicht satt, da vergeht einem lediglich der Appetit und deshalb ist das so gesund.
Sonntags war immer noch ein erweiterter Kreis aus der Verwandtschaft geladen, war wenigstens immer ganz witzig denen zuzuhören, was sie in dieser Woche schon wieder für einen Unfug getrieben hatten. In dieser Ausgabe von Nico’s Wochenschau:
Meine Tante mit der Pumuckl-Frisur erzählte, dass sie einen nigerianischen Prinzen im Internet kennengelernt hätte, der mit ihrer Hilfe gerne ein paar Tonnen Diamanten nach Europa importieren wollte. Ich war kurz davor, entweder mir selbst oder meiner Tante einmal fest mit flacher Hand ins Gesicht zu klatschen. Im Verlauf der weiteren Geschichte erfuhr ich jedoch, dass meine Tante scheinbar immer noch nicht wusste, dass es die D-Mark seit gut 20 Jahren nicht mehr gab. Dementsprechend hatte sie 30.000 Euro, ich meine Mark, in Form von Scheinen in einen Karton gepackt und für ein Porto von 687 € und 30 Cent, das der Empfänger zahlen sollte, nach Nigeria geschickt. Ich drücke es mal so aus: Das Klopapier geht dem Prinzen nicht mehr aus.
Ich hatte an der Stelle dann auch schon wieder genug und beschloss meinen Aufbruch. Als ich wenige Sekunden später den Zündschlüssel vom Deutz umlegte, hörte ich nichts weiter als Husten und Stottern. Ich ließ sofort wieder die Geschehnisse vom Vormittag gedanklich Revue passieren und erinnerte mich daran, dass ich meinen Vater kurz nach meiner Ankunft darum gebeten hatte, Öl nachzufüllen. Eine kurze Recherche in der Garage meines Vaters offenbarte mir, dass er tatsächlich fucking RAPSÖL in den Motor gekippt hatte! Das sei umweltfreundlicher als das teure Motoröl, so begründete es mein Vater… Mein Golf hätte das vertragen, aber der Deutz? Einmal mit Profis arbeiten!
Gut, dann konnte ich heute eben nach Hause latschen. Waren die Kalorien, die mir das Katzenfutter ausnahmsweise mal geliefert hatte halt direkt wieder weg.
Montag. Meine durch Nährstoffinsuffizienz hervorgerufene, nutritive Depression war nun vollständig ausgeprägt. Nüchtern und nichtssagend saß ich am Mittagstisch und wartete darauf, dass die Mahlzeit, die mir meine Mutter vorsetzen würde, endlich wieder einen kurzen Schub der Emotion, nämlich Wut und Hass, in mir auslösen würde. Hauptsache, ich konnte überhaupt wieder etwas spüren.
„Heute gibt es Hühnchen mit Reis“, trällerte meine Mutter. Hühnchen? Etwa Fleisch? Ein Nahrungsmittel, für das ein oder mehrere unschuldige, niedliche Kleintriere leiden und sterben mussten? Unklugerweise weckte diese Vorstellung Hoffnung in mir.
„Aber ich dachte, es gibt in diesem Haus hier kein Fleisch mehr“, testete ich meine Mutter vorsichtig.
„Deshalb habe ich den Teil mit dem Hühnchen ja auch weggelassen“, gab meine Mutter Antwort. Es gab also einfach nur Reis. Puren, trockenen Reis. Nicht mal ein toter Fisch dabei. Da waren sie, der Hass und die Wut. Reglos verharrte ich in Position und starrte geradeaus ins Nichts. Ich war fertig mit der Welt. Ich bemerkte nicht einmal, wie ich meiner unschuldigen, auf meinem Schoß sitzenden Katze skrupellos das Fell ausrupfte wie einer Weihnachtsgans die Federn. Schon eine verlockende Vorstellung, gebratenes Kätzchen. Quasi Falscher Hase. Als ich bemerkte, was mein unterernährtes Hirn sich zurechtträumte, ließ ich mein Kätzchen natürlich sofort laufen.
„Wenn du was anderes Essen willst, dann fahr doch am Wasgau vorbei und besorg dir was!“, meinte Mein Vater.
„Mit dem Deutz, meinst du?“, erwiderte ich.
Mein Vater gönnte sich bereits die achte tellerüberfüllende Portion Reis, weil er einfach nicht satt werden wollte. Ich beruhigte mich allmählich wieder und war drauf und dran, die erste Gabel mit Reis in meinen Mund zu schieben, als mein Vater die unumstößlich als wichtiger als das Mittagessen zu klassifizierende Frage stellte, was denn die gendergerechte Form des Wortes „Hummel“ sei. Ich pfefferte die Faust so hart auf den Tisch, dass sich jedes Reiskorn einmal um die eigene Achse drehte. DIE Hummel interessierte es wohl einen feuchten SCHEISSDRECK, ob sie eine Sie, ein Er, ein/e Divers oder irgendeines der anderen hundertfünfundachtzig Geschlechter war, sie wollte einfach nur ihren verdammten Lebenszyklus hinter sich bringen – genau wie ich. Aber ich bin mir sicher, dass sich das soziopsychologische Phänomen des Sexismus eliminieren ließe, wenn wir in Zukunft Fluginsekten nach ihren präferierten Pronomen fragen.
Meine Gedanken entgleisten Mal wieder. Genug echauffiert, es kann ja nicht jeder einen vierstelligen Intelligenzquotienten haben. Jedenfalls wollte ich verhindern, dass mir vor lauter Aufregung auch noch mein letztes Ei platzt und meine zerborstene Halsschlagader durch den Raum zappelt, wie ein voll aufgedrehter Feuerwehrschlauch, den niemand festhält.
Ich hatte in den vergangenen Minuten des Ärgerns nicht ganz mitbekommen, was um mich herum passiert war, deshalb überraschte es mich, als meine Mutter mir einen Eimer eiskaltes Wasser ins Gesicht kippte. Sie dachte, der Rauch, der aus meinen Ohren kam, wie auch das hochfrequente Beben meines tomatenroten, von Krampfadern gezierten Kopfes, wären ein erstes Anzeichen für eine spontane Selbstentzündung – ganz unrecht hatte sie wohl nicht.
Meine vor Hunger jaulende Katze ignorierend, bat ich meine Mutter um die Zubringung einer Packung Mon Cheri, ich bräuchte Betäubung. Wir hätten keine, aber sowas ähnliches. Während mein Vater die 21. Portion Reis in sich hinein schaufelte, holte meine Mutter ein paar gefüllte Schokoeier aus dem Süßigkeitenvorrat. Ohne wirklich lange darüber nachzudenken, riss ich die Verpackung von einem solchen herunter und warf es mir in den Mund.
Mit Beginn des oralen Zerkleinerungsvorganges wurde mir instantan eine kleine Wahrheit bewusst: Es handelte sich um mit Alkohol gefüllte Eier, deren Inhalt sich gerade durch meinen Rachen brannte. Ich musste spontan feststellen, dass diese Schokoeier einen deutlich höheren Wirkungskoeffizienten besaßen als Mon Cheri.
Der Inhalt des Schokoeis schmeckte vergleichsweise aber eher wie eine Mischung aus hochprozentigem Desinfektionsmittel gemischt mit einer Prise Streusalz und einem Schuss Spülmittel. Wie ich später herausfand, sollte es sich bei der Füllung der Schokoeier angeblich um Eierlikör handeln – was von meiner Mutter eigentlich nicht weniger zu erwarten war. Wenn ihr Eierlikör-Pegel unter einen gewissen Schwellenwert viel, wurde sie unerträglich: Sie gab jedem, den sie traf sachlich nicht ganz korrekte Handwerkstipps und renovierte in Schüben verschiedene Räume oder Gebäude, die allesamt hinterher in einer aus dem zart Roten Spektrum stammenden Farbton eingefärbt wurden.
Ich erkundigte mich nach einem Dessert mit weniger als 67 Volumenprozent – was es abgesehen von mit Mandelmilch angerührtem Pudding nicht gab.
„Du hättest ja am Wasgau vorbeifahren und dir was mitbringen können“, sagte mein Vater.
Ob ich ihn mit einem Stahlrohr oder einer Dachlatte verprügeln sollte, wollte ich mir während einer beruhigenden Tasse hochprozentigem Kaffee (auf den Koffeingehalt bezogen) überlegen. Die Frage, ob noch Kaffee im Haus sei, wurde mir in gleicher Art und Weise beantwortet, wie die vorangegangene, obwohl ich mir nicht sicher war, ob es im Wasgau auch meine Lieblingssorte gab (Eilles „Klump“ Extrastark – auch als Waschmittel verwendbar). Ich wusste jetzt definitiv, dass ich ein Stahlrohr und eine Dachlatte verwenden würde.
Ich versuchte für diesen Tag einen Schlussstrich zu ziehen. Es dauerte nie länger als eine Woche, bis meine Familie sich wieder von ihrem Gesundheits- & Moralitätstrip beruhigte, denn für eine dauerhafte Veränderung ihres Lebens waren sie allesamt zu willensschwach. Bis dahin müsste ich mich nur irgendwie selbst mit Nahrung versorgen. Ohne Kohle.
Als ich auf dem Weg nach draußen vor der Haustür stand, da legte mir meine Katze doch tatsächlich eine dieser veganen Mäuse aus Fruchtgummi von Katjes vor die Füße. Die Höhe!
„Freistoß!“, rief ich, hob die Hand und verpasste der Katze einen Tritt, der sie auf die Fluchtgeschwindigkeit des Jupiters beschleunigte. Ich muss an dieser Stelle mal kurz für den Tierschutz klarstellen, dass es sich um eine Übertreibung handelt, bevor die wieder vor der Tür stehen. Tatsächlich war es viel eher die Fluchtgeschwindigkeit des Saturns und ich war mir zu diesem Zeitpunkt sicher, dass meine kleine Mieze nach dem Zwischenfall mit dem Deutz und dem Scheibenmäher noch mindestens drei ihrer Leben übrig hatte. In jedem Fall flog mein Kätzchen hoch genug, dass sie auf dem Weg nach unten genügend Zeit hatte, das Fliegen zu lernen. Aber selbst wenn sie das nicht schaffte – man sagt doch immer, Katzen landen immer auf allen Vieren, oder? Das dürfte ja bei einem Stratosphärensprung nicht anders sein, nur dass sie wahrscheinlich eine Weile brauchen würde, bis das von der Luftreibung abgeschmirgelte Fell nachwuchs.
Dienstag. Mein Vater brachte was von der Dönerbude. Ich war ganz erstaunt, dass das überhaupt passierte, hatte aber auch aus den vorangegangenen Tagen meine Lektionen gelernt. So überraschte es mich nicht, dass ich nichts weiteres in den styroporenen Thermoschalen vorfand, als eine Anhäufung körniger, Getreideartiger Masse.
„Wasn das?“, fragte ich skeptisch.
„Bulgur“, antwortete mein Vater, „Sowas wie türkischer Reis.“
Mich konnte an der Stelle einfach nichts mehr schockieren. Bulgur entstammt tatsächlich der Familie der Weizengewächse, also war die Aussage meines Vaters mit gewisser Vorsicht zu genießen, aber unter Vernachlässigung der für Dönermänner üblichen Gewürze, so war Bulgur von Geschmack und Konsistenz durchaus vergleichbar… mit Reis.
Dieser Gedanke schien mein Hirn an die Grenzen seiner mangelernährten Leistungsfähigkeit zu bringen, denn ich fiel in Ohnmacht.
Mittwoch. Nach dem gestrigen Erlebnis fuhr ich (mit dem Golf, der Deutz stand noch bewegungsunfähig bei den Eltern) zum Doc, um mich mal durchchecken zu lassen. Die Laborergebnisse sähen gut aus, meinte der, nur die Leberwerte seien die eines Alkoholikers. Ich solle gefälligst die Finger von alkoholhaltigen Nachspeisen lassen. Dann wurde ich gewogen.
„Ach Gottchen“, rief ich entsetzt und deutete auf die Digitalanzeige der Waage, „Ich bin fast zwei Meter groß und wiege nur noch 65 Kilo.“
„Sie müssen mit beiden Beinen auftreten“, informierte mich der Doktor. Anstatt mir nun ein gesünderes Gewicht anzuzeigen, wechselte der Bildschirm der Waage zu „Bitte nur einzeln auftreten“.
Der Doktor diagnostizierte lediglich ein paar ernste, psychische Beeinträchtigungen, aber körperlich schien ich topfit zu sein. Er knallte mir einen unterschriebenen Zettel auf den Tresen, den ich beim nächsten Metzger abgeben sollte, die Krankenkasse würde das übernehmen. Als ich das Wort „Metzger“ hörte, musste ich instinktiv lächeln.
Wenig später durchstreifte ich mit dem Rezept in der Hand zu Fuß den Ortskern, bis ich zu dem Gebäude in der Einkaufsstraße gelangte, wo normalerweise der Metzger zu finden war. Statt dem üblichen, burgunderroten Porsche Panamera fand sich ein dunkelroter, klappriger Fiat Multipla auf dem Parkplatz davor. Hinter dem Schaufenster klebte ein Zettel auf dem geschrieben stand: „Wir schliesen aufgrund von Insolvänz“.
Noch hatte mein Metzger offen, also trat ich ein. Da stand Nobbes, der Besitzer der Metzgerei, alleine und ohne Personal hinter der Theke. Mit meinem Erscheinen zauberte ich ihm ein dickes Lächeln ins Gesicht.
„Aweile awwa, isch hann schunn gedenkt du kämschd gar nimmeh!“, nuschelte er mir durch seine zahllosen Zahnlücken entgegen, „Isch musst schunn de Panamera verkaafe. Ohne disch is de Umsatz dodaal ingebroch!“
Ich legte lächelnd das Rezept des Doktors auf der Theke ab. Nobbes tat so, als könnte er lesen und studierte das Schriftstück.
„Zwei dobbelde Fleischkäsweck unn e Urpils, kommd sofort“, bestätigte er mir direkt, „Unn die Krankekard bräuscht isch.“
Ich verließ die Metzgerei zufrieden und gesättigt. Während ich den Weg zurück zu meinem Wagen entlang schlenderte, vernahm ich einen lauter werdenden Kampfschrei, ähnlich wie ihn rivalisierende Katzen ausstießen, wenn sie aufeinandertrafen. Ein Blick nach oben und ich sah einen stetig größer werdenden, schwarz-weißen Punkt. Ich hielt mir meine flache Hand vor die Stirn, um das Sonnenlicht abzublenden und besser sehen zu können. Das größer und lauter werdende Objekt schien allem Anschein nach meine kleine Miezekatze beim Atmosphärenwiedereintritt zu sein.
Nur mit einem leisen, Patschen landete mein kleines Kätzchen auf allen Vieren und unversehrt vor mir auf dem Bürgersteig. Zwischen den Zähnen hatte sie das Genick eines toten Adlers eingeklemmt, den sie wohl auf dem Weg hinab als Zwischenmahlzeit mitgehen lassen hatte. Definitiv nahhafter als vegane Gummimäuse.
Geistig entspannt stiegen wir endlich wieder in meinen Golf. Solange ich den jetzt nicht auch noch mit Rapsöl betanken musste, war alles gut. Um mein Gewissen zu beruhigen, ließ ich nach dem Aussteigen zuhause den Motor noch laufen und legte über Nacht einen Backstein aufs Gas, meine Umweltbilanz der letzten Tage wieder aufzubessern, schließlich stand der Deutz ja noch bewegungsunfähig bei den Eltern.
Und das Allerbeste: Bis auf weiteres versorgte mich die Krankenkasse erst mal mit verzehrbaren Nahrungsmitteln, also kam es auch nicht mehr auf die Kohle vom Amt an. Na dann. Prost Mahlzeit!
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