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Der letzte Domino?

  • Autorenbild: The Machine
    The Machine
  • 2. Juli 2022
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 22. Sept. 2022



Ich mag gute Musik. Dabei ist natürlich klar, das ich persönlich, und ja auch nur ich alleine definiere, was gut, was schlecht und was überhaupt Musik ist. Selbstverständlich ist das dann universal für alle Menschen gültig, zumindest in meiner Gegenwart.

Mein Grundsatz ist dabei, dass die meiste moderne Musik völliger Schrott ist. Die 90er... naja... wer's mag. In meiner Welt jedenfalls endete die Geschichte guter Musik so ziemlich an Silvester 1989. Ich persönlich bin ein Fan von Musik, die mehr als 10, tendenziell 20 Jahre älter ist als ich.

An dieser Stelle fragt man sich wohl zwei Dinge: Ob ich jetzt tatsächlich über das höchst diskutable Thema des richtigen Musikgeschmacks philosophieren wolle – und was das dann noch mit dem letzten Dominostein seiner Art zu tun hat.


An alle die, die Deutschrap hören: Keine Sorge, früher oder später widme ich euch auch eine Geschichte, in der ich alles schamlos auseinandernehme, was euch lieb und teuer ist. An alle diejenigen, die völlig seelenlos mitklatschen, wenn Andi Borg wieder singt „Jetzt ist Stadlzeit“ - bei euch ist Hopfen und Malz verloren, möge der Satan euch gnädig sein.

Ganz unabhängig von dem was ich nicht mag: Meine erste Lieblingsband war Genesis. Das ist für meine Generation wohl eher eine unübliche Wahl, aber sei es drum. Umso erfreuter war ich, als die Band ihre Tour „The Last Domino?“ nicht nur ankündigte, sondern auch noch nach Deutschland bringen sollte.


Nachdem ich mit meinem Teenie-Freudenschrei das Trommelfell meiner Mutter zum Platzen gebracht hatte und zur Beruhigung ein paar Mal die Wand hoch und runter gelaufen war, wollte ich mich sofort ans Werk machen, mir eine Karte zu sichern. Nun war es bei uns aber mehr oder weniger schon Tradition, dass mein Vater und ich gemeinsam Konzerte besuchten, weil wir in etwa denselben Musikgeschmack haben.

(Mit meiner Mutter hatte ich das auch mal probiert, aber nachdem sie mich ein mal zu Hansi Hinterseer geschleppt hatte, hatte ich vorerst genug. Der Typ hatte ja gar keine Augen am Hinterkopf, nur Lug und Trug!)

Mein Vater wollte also mit zu Genesis. Ich stand nun vor zwei Problemen. Ich musste erst mal meinem Vater, dem Herrn Sparkommissar persönlich, klar machen, dass es keine Tickets für unter 100 Euro geben würde und wenn doch, diese entweder für die Abstellkammer der Lanxess-Arena oder für eine gänzlich andere Band waren. Ansonsten musste ich noch dafür sorgen, dass mich der Kauf eines solchen Tickets nicht langfristig in den finanziellen Ruin brachte.

Ich machte meinem Vater also sehr deutlich, dass ich keine Kompromisse eingehen würde. Das war die vermutlich letzte Chance für mich, meine Lieblingsband live zu sehen und wenn ich nicht das verdammte VIP-Paket bekäme, würde ich auf die Barrikaden gehen – oder einfach ohne ihn fahren.

Ich konnte ihn überzeugen – zwar indem ich ihm damit drohte, den voll aufgedrehten Kärcher auf seine heiß geliebte Kassenzettelsammlung, die er an seiner Pinnwand ausstellte, abzufeuern – aber ich konnte ihn überzeugen.


Die Situation: 250€ pro Ticket, 2 Personen. Ich löste die Lebensversicherung meiner Katze auf, verkaufte die Dämmung des Dachbodens meiner Eltern zu Wucherpreisen im Internet, spendete 13 Liter Blut und ließ als Trinkgeld noch eine Niere da. Zwischendurch stillte ich meinen Hunger mit drei McMenüs bei McDonalds.

Das Fazit: Ich hatte 12,95€ und immer noch keine Tickets. Also drohte ich damit, die heißgeliebte Krankenscheinsammlung meines Vaters in die voll aufgedrehten Brenner meines Grillgutvergasers zu werfen, wenn er den Rest nicht beisteuerte (Ich bekam die Tickets letztendlich zum Geburtstag, danke Vadda).

Die neue Situation: Mein Vater war 500€ ärmer, es galt eine Strecke von 270 Kilometern gleich zwei mal an einem Tag zurückzulegen bei Spritpreisen von 2,20€ pro Liter. Ich hatte aber noch etwas Zeit zur Vorbereitung.


Ich legte mir also ZZ-Top auf die Boxen, die ich in Vaters Garage aufgestellt hatte, warf mich in Schale (also in Arbeitskleidung) und rüstete mich mit meinem Allzweck-Holster aus. Ich entnahm die Grillzange daraus und steckte stattdessen einen elektrischen Schraubenschlüssel hinein. In der Einfahrt stand mein Golf. Ich spuckte mir (symbolisch) in die Hände und legte los.

Bis tief in die Nacht hinein bastelte ich herum, um das Gefährt so reiseeffizient zu machen, wie nötig. Im Morgengrauen dann weckte mich meine Mutter. Ich hatte wohl unfreiwillig in der Einfahrt übernachtet. Sie war natürlich verärgert, was ich denn nun schon wieder angestellt hätte, also versuchte ich die Situation bestmöglich mit meiner bekannten Wortgewandheit zu deeskalieren.

„Ich habe ein bisschen am Motor und am Auspuffsystem herumgebastelt, dass sollte nicht nur mehr PS herausholen, sondern den Spritverbrauch auch etwas drosseln“, sagte ich stolz zu ihr, „Allerdings brauche ich ein paar Liter deiner Bratensoße als Kraftstoffzusatz für den Nachbrenner.“

Die Stirn meiner Mutter warf Falten. Das war ihr Gesicht, wenn sie sich daran erinnert fühlte, dass die Bastelei, die ich als meine Größte Errungenschaft bezeichnen konnte, ein Feuerwehrauto von LEGO war.

„Die Slicks sind auch schon aufgezogen und ich habe aus der Motorhaube von deinem Nissan einen Frontspoiler gebastelt, um den Abtrieb zu erhöhen“, fügte ich hinzu, als hätte ich auch nur irgend eine entfernte Ahnung von Aerodynamik oder davon, wie man ein Schweißgerät benutzte.

„Du bist adoptiert“, sagte meine Mutter entnervt und kehrte müde ins Haus zurück.


Als ich ein paar Tage vor dem Konzert in die Einfahrt meiner Eltern einbog, musste ich zu meinem persönlichen Ärgernis feststellen: Da stand ein RTW auf meinem Parkplatz – ein Rettungstransportwagen. Ich war mir unsicher, ob die Tatsache, dass etwas auf meinem Parkplatz stand mich mehr störte, als der Grund dafür, warum ein Krankenwagen bei meinen Eltern stand. Hatte meine Mieze wieder versucht die Mausfamilie im Rollladenkasten des Kellerzimmers zu fangen, ist stecken geblieben und Mutter hat wieder versucht, sie mit dem Staubsauger rauszuholen? Oder hat mein Vater wieder versucht, sich die Zehennägel selbst zu schneiden?

Tatsächlich, wie sich herausstellte, hatte mein Vater zuvor eine Art „Arbeitsunfall“ erlitten, aber weil er den Mann markieren wollte, niemandem davon erzählt. Als er dann auf dem auf den Boden herab triefenden Speichel meiner kleinen Schwester ausgerutscht war, als er ihr die Windeln wechseln wollte, hat er sich wohl so unglücklich abgelegt, dass ihm die Achillessehne gerissen war.

„Scheiße“, kommentierte ich, als ich dabei zusah, wie die Sanitäter meinen zappelnden und schreienden Vater bearbeiteten, „Jetzt hab ich die Aufhängung vom Golf schon auf das Gewicht von zwei Personen getrimmt!“

Ich mutmaßte also, dass ich nun alleine fahren müsste – was mir retrospektiv sehr viel Leid erspart hätte. Mein Vater bestand aber nicht nur darauf mitzukommen, sondern vermochte es, jede Krankheit die er hatte für sein Umfeld schlimmer zu machen, als für ihn selbst. Mutter hingegen war froh, dass die Quengelbacke wenigstens ein Tag außer Haus war und sie nicht ständig Eierlikör kippen musste, um sich zu betäuben.


Sonntagmittag, 13h 30. Wir befanden uns im wahrsten Sinne des Wortes in den Startlöchern. Mein Vater war zwar höchst besorgt, dass wir nicht rechtzeitig zu dem Konzert ankommen würden, dessen Einlass um 18h 30 in Köln beginnen würde, aber da ja ich den Wagen fuhr und nicht er, konnten wir jegliche zeitliche Problematik schon mal direkt vom Tisch schaffen.

Mit einer dicken Orthese um den Fuß schaffte mein Vater sich auf den Beifahrersitz, den er mit zwei Kissen, drei Rollen Luftpolsterfolie und einer Heizdecke ausgestattet hatte. Im Kofferraum hatte er von meiner Mutter zwei Kühlboxen mit Nahrungsmitteln und allerlei sonstiger Utensilien deponieren lassen. Manchmal frage ich mich, wie mein Vater es geschafft hat alleine zu überleben, bevor er meine Mutter kennen gelernt hat.

Noch während ich den ersten Gang einlegte erhob mein Vater die Stimme:

„Bitte brems nicht zu hart, das tut mir sonst in der Sehne weh!“, quengelte er. Es war nur das erste Anzeichen einer sehr ermüdenden Reise.


Wir hatten nicht mal das Ortsschild passiert, da meldete sich mein Vater schon wieder zu Wort: „Du kannst schon mal nach der nächsten Raststätte Ausschau halten, ich muss ziemlich bald pinkeln. Ich nahm seinen Wunsch zur Kenntnis und bog in die Autobahnauffahrt ein. A8. Unbegrenzt.

„Willst du nicht endlich mal hochschalten?“, rief mein Vater mir zu, als ich gerade dabei war, hochzubeschleunigen und aufzufahren.

„Waaaaas?“, rief ich durch den Motorenlärm zurück, „Ich kann dich nicht so gut hören, wenn ich im zweiten Gang 120 fahre, dann ist der Motor so laut.“

Ich führte noch einmal einen absichernden Schulterblick durch, dann setzte ich den Blinker für den Spurwechsel auf die linke Seite.

„Was hast du vor?“, fragte mein Vater mich. Ich schaltete kurz den Motor ab, um ihn besser verstehen zu können.

„Denkst du ich fahre freiwillig nur 140 wenn die linke Spur frei ist?“, gab ich ihm als Antwort und betätigte wieder die Zündung. Doch nichts, der Wagen sprang nicht an. Wir rollten bei 140 Sachen ohne Motor oder Bremskraftverstärker die Autobahn entlang.

Ich warf einen Blick auf die Diagnosetafel, die ich in die Sonnenblende eingebaut hatte.

„Halt das Lenkrad mal gerade“, forderte ich meinen Vater auf, sobald ich das Problem gefunden hatte und verschwand für eine Minute im Fußraum. Dort konnte ich über eine Wartungsluke auf die Verkabelung der Elektrik im Armaturenbrett zugreifen.

Problem gelöst, jetzt konnte ich wieder starten. Allerdings musste ich wegen den geringfügigen Modifikationen, die ich an meinem Wagen durchgeführt hatte, bei 125 Stundenkilometern im Rollen aufpassen, dass ich zum richtigen Moment während der Zündungsprozedur das Bratensoße-Kraftstoffaggregat zuschaltete, damit die Zündkerzen keinen Abgang machten. Die Karre bekam einen kurzen Geschwindigkeitsschub, dann hörte ich das Aufdröhnen des Motors.

„Triebwerke sind wieder online, Captain“, scherzte ich. Mein Vater fand das gar nicht witzig, so wie er sich panisch an dem Hängegriff festklammerte.

In der Ferne erblickte ich auch schon das erste Raststättenschild, dort konnte mein Vater beruhigt pinkeln.


Bisherige Fahrtzeit: 28 Minuten

Zurückgelegte Strecke: 62,2 Kilometer


Mein Vater humpelte mit Krücken und Orthese schnellstmöglich zur Toilette und zurück, während ich eine BiFi verzehrte und mit einer Dose Cola herunterspülte.

Endlich waren wir wieder auf dem Weg zur Autobahn, da entdeckte ich einen Streifenwagen der Polizei in der Ausfahrt stehen. Au Backe...

Wie es das Schicksal so wollte, wurden natürlich ausgerechnet wir zum Anhalten herübergewunken. Ein langer, schlaksiger Polizist trat an mein heruntergekurbeltes Fenster heran.

„Juten Tach“, grüßte der Polizist in einem mir fremden Akzent, „Ich muss Sie darauf aufmergsam mache, dass Sie einische nischd zulässische Veränderunge an Ihrem Fahrzeusch hawe.“

„Ja, das is mir klar, ich hab die ja auch selbst angebracht“, entgegnete ich, „Danke für die Information.“

Der Polizist zückte Notizblock und Kugelschreiber.

„Also, ich schdelle fest“, setzte er an, „Sie fahre mit einer für diese Schdregge unzulässischen Bolideneinstellung. Auserdem is das Benutze einer Bratensoßeneinspritzanlaache bei Fahrzeusche über 45 PS laut §17b der Schdraseverkehrsordnung nicht erlaubd.“

„Bolideneinstellung lässt sich ändern“, sagte ich und betätigte den entsprechenden Hebel. Damit hatte der Wagen zwar weniger Abtrieb, aber sei es drum.

„Aber woher wollen Sie wissen, dass ich mit Bratensoßenaggregat fahre?“, forderte ich den Polizist heraus.

„Aus Ihrem Auspuff komme grüne Schdischflamme“, zeigte der Polizist mir auf, „Auserdem hawe Sie eine Maggi-Ferdischsoosenemblem auf Ihrer Motorhaube."

„Ich benutze es nur im Notfall“, versicherte ich dem Polizisten und deutete auf den alten Mann auf meinem Beifahrersitz, „Mein Vater leidet an Harndrang und dann muss es manchmal schnell gehen.“

Der Schlaks von einem Polizist bückte sich, um in das Fahrzeug hinein zu sehen.

„Ach Wolle, du bischds!“, rief der Polizist auf einmal. Meinem Vater konnte man ansehen, dass er vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre.

„Moin Olaf!“, grüßte mein Vater zurück.

„Alles glar, weiderfahre!“, rief der gerade als Olaf bezeichnete Polizist mir zu, entfernte sich ein paar Schritte von meinem Wagen und winkte uns durch. Hatte wohl doch Vorteile ein Polizistensohn zu sein.


Bisherige Fahrtzeit: 66 Minuten

Zurückgelegte Strecke: 79 Kilometer


Wir fuhren jetzt schon 10 Minuten mit bloß 40 Sachen durch eine elend lange Baustelle. Mit Baustelle meine ich ausnahmsweise mal nicht Rheinland-Pfalz, sondern eine tatsächliche Baustelle, die so ungünstig auf der Straße platziert war, dass immer mindestens eine Hälfte des Autos gerade über Rüttelstreifen fuhr. Aber abgesehen davon würde es ja ohne Baustelle auch nicht schneller gehen, denn mit den Autofahrern in Rheinland-Pfalz verhält es sich wie mit den Autofahrern im Landkreis Saarlouis: In den seltensten Fällen zweistellige Geschwindigkeiten.

Das Ende der Baustelle war noch lange nicht in Sicht und mein Vater jammerte ständig vor sich hin, dass das ständige Gerüttel und Gewackel ihm die Blase zu sehr aufwirbeln würde.

Ich fuhr auf den nächsten Rastplatz nach der Baustelle. Während mein Vater seine Blase entleeren ging, rührte ich mithilfe eines Camping-Gasbrenners zwei Liter Bratensoße an. Gegenüber meines Wagens stand ein Mercedes-Benz EQS an der Ladesäule, dessen Besitzer jedem Passanten erzählen musste, wie viel Reichweite sein teures Elektroauto hatte. Klar, deswegen muss er auch mit seinem 300.000-Euro-Auto auf einer Raststätte mitten im Nirgendwo anhalten, um die Batterie zu laden.

Ich sah den Typen schon auf mich zukommen, um mir ein Gespräch über E-Mobilität zu drücken, da füllte ich die Bratensoße kurzerhand in den Tankstutzen. Entsetzen machte sich in seinem Gesicht breit, sodass er langsam wieder ein paar Schritte rückwärts zu seinem EQ machte. Elektroautos, viel zu umweltfreundlich.

Ich pfiff mir noch zwei BiFis und ne Cola rein, während ich meinem Vater dabei zusah, wie er quer über den Parkplatz zurück zu meiner Karre humpelte. Jetzt konnte es endlich weitergehen. Nachdem wir Rheinland-Pfalz hinter uns gelassen hatten, ging es auch wieder einigermaßen voran.


Bisherige Fahrtzeit: 131 Minuten

Zurückgelegte Strecke: 202 Kilometer


Ich war gerade entspannt mit 170 Sachen auf einer nahezu freien Autobahn am cruisen, als ich das Flackern einer Lichthupe im Rückspiegel vernahm. Ein kurzer Blick zurück bestätigte mir, dass sich gerade ein weißer Mercedes-Benz EQS mit rasanter Geschwindigkeit von hinten annäherte. Ohne zu blinken zog er auf die linke Spur und wollte an mir vorbeiziehen, da drückte ich das Gaspedal ganz nach unten durch.

Ich blickte auf den Tacho. 196 km/h, 6500 Touren im roten Bereich. Argwöhnisch blickte ich zu dem Mercedes-Fahrer herüber, der etwa gleich schnell neben mir fuhr.

Das war tatsächlich der Depp von der Raststätte. Er winkte mir noch hämisch zu, dann machte der Mercedes einen Satz nach Vorne und raste davon.

Ich blickte nun ernst zu meinem Vater herüber.

„Festhalten“, knurrte ich.

Vater deckte sich mit der Luftpolsterfolie zu und klammerte sich wieder mit beiden Händen an den Griff.

Ich drehte das Ventil für die Bratensoße ganz auf und drückte dann den Knopf für den Nachbrenner. Im Rückspiegel konnte ich eine hellauf erleuchtete, grüne Stichflamme sehen, die mein Auspuffrohr verließ. Der Motor tourte dermaßen hoch, dass die Anzeige es nichteinmal mehr darstellen konnte – vom Geräusch her mussten es um die 10000 sein. Die Geschwindigkeitsanzeige überschritt gerade die 230 als wir zu dem Mercedes aufholen konnten.

Natürlich reagierte der Mercedes-Fahrer auf mein Herannahen und beschleunigte selbst weiter. Ab 250 Sachen machte selbst der Elektromotor de EQS schon laute Geräusche. Ich hatte meinen Fuß keinen Millimeter zurück bewegt und der Golf beschleunigte stetig weiter. Als wir uns an die 270 Stundenkilometer herantasteten bemerkte ich, dass die Beschleunigung des Mercedes allmählich nachließ.

Zentimeter für Zentimeter ergatterte ich mir die Führung in diesem Kopf-an-Kopf-Rennen. Bei 284 Sachen dann schaltete das Tagfahrlicht des Mercedes ab.

Ha! Ich lachte mir heimlich ins Fäustchen, als der Mercedes ganz abrupt an Geschwindigkeit verlor und weit hinter mir zurückblieb, bis er letztendlich im Rückspiegel verschwand. Ist der Ökoschleuder tatsächlich der Saft ausgegangen!


Den Sieg genießend wollte ich auf die Bremse treten, jedoch... Das Bremspedal ließ sich ohne Widerstand durchdrücken. Ich hatte längst meinen Fuß vom Gas genommen, aber der Wagen beschleunigte dennoch weiter. Ich drehte schnellstmöglich das Soßenaggregat ab, aber nichts tat sich. Ich musste der Tachonadel dabei zusehen, wie sie mit erstaunlicher Konstanz langsam die 300 übertrat. Mit einem klirrenden „Ping“ benachrichtigte mich die Anzeige auf dem Armaturenbrette, dass die Bremsleitung wegen der enormen Trägheitskräfte unserer Beschleunigung wohl nicht ordnungsgemäß funktionieren würde... Ach was...

Dann, ganz plötzlich, bevor ich reagieren konnte, wurde das Auto in ein grelles Licht gehüllt. Sämtliche visuellen Außeneindrücke verzerrten sich zu einem blau-weißen Strom aus energievollem Licht um den Wagen herum, der Raum schien sich zu krümmen und die Anzeige der Uhr in der Mittelkonsole begann immer langsamer zu ticken. Irgendwas stimmte hier nicht.

Die Anzeigen für Touren und Geschwindigkeit setzten aus, aber der Motor schien noch zu laufen. Egal was gerade passierte, ich beschloss dem ein Ende zu bereiten, indem ich den an der Decke befestigten Hebel für die Notfall-Schubumkehr zog. Schlagartig öffneten sich alle Türen, Fächer und Bremsklappen, die irgendwie am Auto verbaut waren. Himmel sei Dank taten die Trägheitsdämpfer ihren Job, sonst wären mein Vater und ich jetzt blutiger Matsch auf der Innenseite der Windschutzscheibe. Das Bremsmanöver beförderte uns wieder zurück in unsere nichtrelativistische Realität. Die Lichthülle um den Wagen löste sich auf und gab wieder die Sicht auf die Autobahn frei. Die Anzeigen auf dem Armaturenbrett sprangen wieder an. Ein kurzer Blick auf der sperrangelweit als Bremsklappe ausgefahrenen Tür machte mir dann klar, dass das Fahrzeug nicht einmal mehr Kontakt zum Boden hatte, sondern wir regelrecht in einer Höhe von etwa 3 Zentimetern über den Asphalt flogen. Mit abnehmender Geschwindigkeit reduzierte sich allerdings dieser Abstand und sobald wir wieder sanft aufsetzten stand ich mit beiden Füßen auf der wieder funktionierenden Bremse.

Ich reduzierte die Reisegeschwindigkeit wieder auf effiziente 160 Stundenkilometer und überblickte kurz die Kraftstoffanzeigen sowie das Navigationsgerät. Wir hatten 35 Liter Benzin verbraucht und keinen Tropfen Soße mehr im Tank. Außerdem hatten wir binnen 7 Sekunden 31 Kilometer Strecke zurückgelegt. Heißt: Wir befanden uns zwar immer noch lebendig auf der A61, haben aber unsere Ausfahrt um 22 Kilometer verpasst.

Ich bog auf den nächsten Rastplatz ein, um von dort unser weiteres Vorgehen zu planen.

„Ich muss gar nicht aufs Klo“, meinte mein Vater, „Die Beschleunigung hat alles zurück in die Nieren gedrückt.“


Bisherige Fahrtzeit: 137 Minuten

Zurückgelegte Strecke: 240 Kilometer


Während ich meinem Vater das Auftanken des Wagens überließ, verrichtete ich in aller Ruhe mein kleines Geschäft auf der Raststättentoilette. Der Gewohnheit halber verdrückte ich noch sechs BiFis, die ich mit einer Dose Cola herunterspülte, ehe wir weiterfuhren.

Die letzte Etappe war entspannend zu fahren: Nur noch wenige Kilometer bis Köln und die Lanxess-Arena lag praktisch direkt am Stadteingang.

Dank dem Gejammer meines Vaters konnte ich den Parkplatzwächter sogar davon überzeugen, uns auf den Behindertenparkplatz einfahren zu lassen, der rund einen Dreiviertel Kilometer näher an der Lanxess-Arena lag. Das kuriose an diesem Parkplatz war dann die Tatsache, dass er im 3. UG lag und das ganze Parkhaus keinen einzigen Aufzug hatte – dementsprechend der alte Mann mit Orthese und Krücken drei Stockwerke Treppen hoch gehen musste. Nicht zu vergessen: Natürlich hat er mir dabei von vorn bis hinten die Ohren vollgejammert.


Wir standen dann noch zwei Stunden in der Pisse vor dem VIP-Eingang, bis wir endlich reingelassen wurden (natürlich hatten wir den Behindertenbonus und wurden als erste reingelassen). Aber als wir dann erstmal drin waren, hui habe ich mich gefreut. Es war das Paradies!

Zunächst habe ich alle in unseren VIP-Paketen enthaltenen Gegenstände in Empfang genommen, dann für drei Monatsgehälter den Souvenirladen von Fanartikeln und T-Shirts befreit und letztendlich auf Kosten meines Vaters eine zwei Brezeln zu Großstadtpreisen von 16,95 € das Stück gekauft.

Ich nutzte die Wartezeit bis zum Konzertbeginn, um das im Fanpaket enthaltene Tourmagazin durchzulesen und konnte dabei sogar das Gezeter meines Vaters ausblenden. Die Hälfte der Zeit saß er sowieso auf der Toilette


Der Konzertsaal war... naja. Für eine so große Arena doch recht beengend. Ich fühlte mich mit meinen 195 cm Körpergröße fehl am Platz in einer Arena, die für Menschen mit einer Maximalgröße von 160 cm ausgelegt war, so wenig Beinfreiheit hatte ich. Stellt euch mal erst vor, wie ein genauso großer, älterer Herr mit Krücken und Orthese sich da fühlen musste! Und sein Gejammer erst! Egal, ich wusste mir zu helfen und legte meine Beine einfach dem Vordermann über die Schultern.


Das Konzert an sich war der absolute Hammer. Natürlich zeigte eine Band wie Genesis ein paar Alterserscheinungen. Phil Collins zum Beispiel konnte nicht mehr stehen und musste das Konzert im Sitzen verbringen. Ab und zu hat er mal regelrecht ins Mikro gebrochen, aber das wurde absolut tapfer von den Background-Sängern aufgefangen.

Mike Rutherford performte das E-Gitarrensolo in Firth of Fifth genauso perfekt, wie es Steve Hackett vor 50 Jahren getan hatte, Tony Banks war nach wie vor ein Virtuose am mehrstöckigen Keyboard und nicht zuletzt lieferte Phil's Sohn Nic Collins am Schlagzeug eine genauso überragende Leistung ab, wie sein Vater in den letzten 50 Jahren.

Wie üblich war die Musik laut genug aufgedreht, dass selbst die ganzen schwerhörigen alten Männer um mich herum einen Hörsturz bekamen. Also noch einen, meine ich. Alles in allem: ein Traum!


Gegen 23h 30 hieß es dann aber leider schon Rückfahrt – ich musste am nächsten Morgen verfügbar sein. Nachdem mein Vater sich den Weg zurück durch das Treppenhaus zum Parkplatz gequengelt hatte, öffnete ich vor der Abfahrt das Blasenschwächekit, dass meine Mutter für meinen Vater zusammengestellt hatte. Ich ließ meinem Vater die Wahl zwischen einem Katheter, einer Windel und einem Kabelbinder – Auf der Heimfahrt würde ich gewiss nicht alle 15 Minuten wegen seiner schwachen Blase anhalten wollen.


Ich verspeiste die letzte BiFi und spülte sie mit der letzten Cola herunter, ehe wir aufbrachen.

Sobald wir Köln verlassen hatten, döste mein Vater ganz sanft und leise ein. Ich hatte ihm auch heimlich die Sitzheizung und die Heizdecke angeschaltet.

So ohne Gequengel mit freier Strecke fuhr es sich ganz angenehm bei konstanten 180 Sachen. Zwischendurch regnete es ein paar mal, was zur Abwechslung sehr erfrischend wirkte.

Als wir zu der elend langen Baustelle in Rheinland-Pfalz kamen, befürchtete ich allerdings, das die Rüttelstreifen es schaffen würden, meinen Vater zu wecken – was sie in aller Regelmäßigkeit auch taten.

Es beschrieb sich wie folgt: Durch das Rütteln wurde mein dösender Vater nach und nach aus seiner Sitzposition bewegt, bis sein Kopf schließlich mit aller Härte auf dem Armaturenbrett aufschlug und er davon wach wurde. Hätte der Airbag je funktioniert, hätte mein Vater ihn eigentlich auslösen müssen.

Von seinem plötzlichen Erwachen aufgeschreckt, richtete mein Vater seinen Oberkörper dann schlagartig auf, was zur Folge hatte, dass er mit dem Hinterkopf an der Nackenstütze des Sitzes aufprallte. Anschließend folgte eine kurze, aber lautstarke Beschwerde über meinen Fahrstil und meine überhöhte Geschwindigkeit, ehe er wieder sanft einschlief.

Nur einmal hatte er zwischendurch eine Panikattacke, als mich zwei 40-Tonner LKWs in jener Baustelle bei strömendem Regen von vorne und hinten einengten. Ihm fehlte zu dem Zeitpunkt, als er dann wach wurde natürlich die Information, dass ich schon seit mehr als 20 Minuten gefahrlos zwischen den beiden LKWs fuhr.


Mitten in der Nacht, also so um halb drei, lieferte ich meinen mindestens gleichwertig zu mir erschöpften Vater bei sich zuhause ab und stahl mir noch eine letzte BiFi aus dem Kühlschrank, bevor ich dann nach Hause fuhr.


Es war vielleicht die letzte BiFi, es war vielleicht mein letztes Genesis-Konzert, aber es war nicht der letzte Dominostein, der in der Geschichte der Musik gefallen ist. Wir leben zwar in Zeiten, in denen autogetunter Verbaldurchfall schon als musikalisches Kunstwerk zählt, aber ich bin mir fast sicher, dass sich wieder Zeiten finden werden, in denen moderne Musik der Vielfalt, der Bedeutsamkeit und dem Gehalt der Musik des 20. Jahrhunderts nahe kommt. Nicht zuletzt halten sich die Legenden von damals durch ihre Musik auch heute noch am Leben.


Danke Genesis, für eure Inspiration.


 
 
 

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