Familiäre Fürsorge
- The Machine
- 9. Juni 2021
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Sept. 2022
Hochsommer, 60° im Schatten und selbst der Ventilator kühlt sich die Rotorblätter an der Klimaanlage. Während ich, als natives Kellerkind, gerade noch so dazu in der Lage war, meine lebenswichtigen Körperfunktionen aufrecht zu erhalten, bedeutete diese Zeit für meine Eltern meistens, den ultimativen Urlaubsstress anzufangen.
Die Familie buchte seit beinahe zwei Dekaden jeden Sommer für die Dauer von zwei oder mehr Wochen eine Ferienwohnung am schönen Bodensee – übertraf sich aber jedes Jahr selbst mit der Urlaubsvorbereitung. Zum Beispiel, indem sie kistenweise Konsumgüter in das Auto verluden, die man auch hätte vor Ort kaufen können.
Die Fahrt zum Bodensee gestaltete sich für mich simpel und einfach: Nach dem Stau bei Pirmasens folgen fast 200 Kilometer Autobahn ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Während der Backstein auf dem Gaspedal das Fahren übernahm, konnte ich auf der Rückbank ein Nickerchen machen. Fahrzeit: 4 Stunden für 360 Kilometer.
Meinen Eltern war das zu einfach, denn so würde ja der ganze „Spaß“ verloren gehen. Zuerst mussten sie die Entscheidung treffen, ob sie über Frankreich oder durch Deutschland fahren wollten. Klar, die erste Etappe auf deutschem Asphalt hatte eine hohe Stauwahrscheinlichkeit und die Strecke war ein paar Kilometer länger, aber dafür größtenteils ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Frankreich hatte eine harte Geschwindigkeitspolitik, da konnte man froh sein, wenn man auf dem 8-spurigen Superhighway 30 fahren durfte. Außerdem kam da noch die Maut hinzu.
Ich muss eigentlich nicht genauer darauf eingehen, welche Route meine Eltern wählten, denn wer sie kennt weiß, dass sie weder körperlich noch geistig dazu in der Lage sind, Dinge einfach und schnell anzugehen. Alleine die Wahl der Route verlängerte ihre Fahrt schon um zwei Stunden, hinzu kam, dass das Auto so maßlos überladen war, dass es wahrscheinlich die halbe Strecke alleine für das Erreichen der vollen Reisegeschwindigkeit brauchen würde. Und da war noch die schwache Blase meines Vaters, die er mindestens alle Viertelstunde entleeren musste. Außerdem war meine Mutter als Navigatorin so effektiv wie Christopher Kolumbus bei dem Versuch, Indien zu finden. Resultat: 12 ½ Stunden Fahrt für 370km zu einem Preis von 186€ und 31 Cent Maut (Sprit nicht mitgerechnet). Hatte ich erwähnt, das meine Schwester mit der Ausdauer von titanverstärkten Stahlbeton über die ganze Fahrtdauer hinweg ihre Liedchen trällerte?
ABER – Seitdem ich den Führerschein hatte, blieb mir die Mitfahrt ja erspart. Das war auch in diesem Jahr der Fall, nur etwas anders als üblich.
3h Uhr 30 in der Frühe: Ich trank gerade meine sechste Tasse Kaffee, die letzte vor dem Mittagessen, und verzehrte mein morgendliches Lyonerbrötchen mit Senf, während meine Mutter den Kofferraum des Autos (und den Anhänger) mit allerlei Gepäck und ihrer Stiefelsammlung belud. Die 8 Fahrräder meines Vaters waren schon seit dem Vortag in den Halterungen und auf dem Dach befestigt, meine Schwester begnügte sich mit einem Jahresvorrat frischer Windeln, deren Gesamtmasse dafür sorgte, dass die Hinterachse des Wagens sich bis zum Boden durchbog. Normalerweise studierte mein Vater um diese Uhrzeit panisch die zu fahrende Route (die seit 20 Jahren dieselbe war) mithilfe von Kartenmaterial, dass mein Urgroßvater im ersten Weltkrieg von Hand aufgezeichnet hatte. Aber diesmal war er nirgends zu sehen.
Meine Mutter verlud gerade mit dem Gabelstapler die letzte Palette Windeln in den Anhänger, als der behinderte Vogel aus der Nachbarschaft, der immer eine Stunde früher zwitscherte, als alle anderen, begann sein morgendliches Lied zu plärren – pünktlich um 4 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt kreuzte auch endlich mein Vater auf. Noch im Schlafanzug, mit geschwollenem Gesicht und einer roten Nase schlurfte er langsam ins Wohnzimmer.
Just in diesem Moment betrat meine Mutter den Raum und wollte sogleich losmeckern, warum ihr denn keiner beim Beladen helfen würde, allerdings brachte sie die Erscheinung meines Vaters zum Stocken.
„Gitte, isch bin krank“, näselte mein Vater.
Nach ein oder zwei Beruhigungsflaschen Eierlikör sah meine Mutter ein, dass der Urlaub dieses Jahr ausfallen musste. Weniger Stress für mich, dachte ich. Noch. Ich sollte nämlich in den kommenden Tagen erleben, dass ein Männerschnupfen um ein Vielfaches schlimmer war, wenn man nicht der Kranke war.
Auf bekannte Riten zurückgreifend, badete meine Mutter meinen Vater in lauwarmem Wasser, bevor sie in in seinem Bett absetzte und in zahlreiche Decken einwickelte. Unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen, lag mein Vater wie eine Rolle Rollrasen auf dem Bett und genoss ab und zu einen Schluck heißen Kakao, den meine Mutter ihm in seiner Schnabeltasse zuführte. Er ließ sich das Essen ans Bett bringen, Geschichten vorlesen und Fieber messen. Wunderte mich, dass er nicht auch noch andere Leute seine Medikamente für ihn schlucken ließ – obwohl das wahrscheinlich kaum einen Unterschied gemacht hatte, denn seine Mittel der Wahl waren Ilja Rogoff Knoblauchtabletten und eine Flasche Heilwasser am Tag.
Sein Fieber lag im Schnitt bei 38°C. Ich war mir unsicher, ob das Messgerät nicht vielleicht doch den Intelligenzquotienten anzeigte, denn 38 Grad waren wirklich nur gerade so als Fieber anzuerkennen. Ich hätte ja eine Probemessung an meinem Kopf führen können, allerdings war das Messgerät nur auf maximal dreistellige Werte ausgelegt (ganz abgesehen davon, dass man bei dreistelligen Temperaturen schon lange unter den Toten weilt).
Meine Mutter war es von meinem Vater eigentlich gewohnt, dass er schon bei der geringsten Unannehmlichkeit damit begann, sein Missfallen durch lautstarkes Quengeln zu äußern, aber dieser akute Fall von Männerschnupfen übertraf selbst das eine mal, als er sich die Kühlschranktür hatte auf den großen Zeh fallen lassen.
Für jedes Mal, das meine Mutter die Treppe hoch stapfen musste, damit sie meinem Vater einen Gefallen tun konnte, trank sie einen Schluck Eierlikör. Bereits am zweiten Tag war der Vorrat im Schrank geleert und der Wohnzimmertisch mit schmutzigen, leeren Flaschen zugepflastert. Während meine Mutter sich so fürsorglich um meinen dem Tode nahen Vater kümmerte, blieb natürlich wenig Zeit für die Aufsicht über meine Schwester – was in der Zwischenzeit mir übertragen wurde.
Sekündlich schrumpfte die Geduld meiner Mutter – wie auch meine. Einen Urlaub am Bodensee einzutauschen gegen die Krankenpflege eines Elefantenbabys war nicht gerade schmackhaft.
Aber warum hatten meine Eltern denn Kinder bekommen? Warum hatten sie mich bekommen? Genau, ich wusste nicht nur immer alles besser, sondern konnte regelmäßig als Sündenbock herhalten, sowie alle unangenehmen Aufgaben erledigen – was hier nicht anders war, nur es dauerte einen Tag, bis meine Mutter darauf kam.
Ich, als freier Jungspund hatte ja gewiss genug Zeit, mich um Haus und Familie zu kümmern, zumal ich ja eigentlich im Urlaub befinden sollte. Das war der Stichpunkt – Urlaub – Ich hatte Urlaub!
Jedenfalls dachte sich meine Mutter trotz aller Widerworte, dass ich nun an der Reihe wäre, meinen Vater gesund zu pflegen, während sie die Zeit nutzen wollte, den Keller zu tapezieren. Schließlich wollte sie ihre Urlaubszeit ja auch nutzen.
Am dritten Tag lag Vaters Fieber bei 37,9° C und er konnte wieder durch die Nase atmen. Mutter hatte in einer Nachtschicht den gesamten Keller rosa tapeziert und schnarchte mit einer halbleeren Flasche Eierlikör im Katzenkörbchen. Als ich sie so fand saß die kleine Mieze daneben und sah mich fragend an, was denn meine ihr Delirium ausschlafende Mutter in ihrem Körbchen zu suchen hatte.
„Sieh's positiv, Mieze, jetzt darfst du auf dem Sofa liegen, ohne gescheucht zu werden“, sagte ich und wollte im Wohnzimmer nach meiner Schwester sehen. Bloß mit einer Windel am Leib lächelte sie mich an. Über den Verlauf von mehr als zehn Sekunden hörte ich ein kontinuierliches Geräusch, das darauf hindeutete, dass die Windel sich füllte. Meine düstere Befürchtung bestätigte sich dadurch, dass die pralle Windel sich bis zwischen die Knie meiner Schwester ausdehnte. Der Geruch war übrigens so scharf, dass selbst eine Zwiebel davon weinen müsste.
Tag 4: Mein Vater bei 37,7°C. Er konnte wieder alleine aufstehen und brauchte deshalb keinen Nachttopf mehr. Das Wohnzimmer wurde über Nacht in pink tapeziert. Schwester veranstaltete mit der Katze eine Verfolgungsjagd, wie man sie aus Tom und Jerry kannte.
Tag 5: Vaters Temperatur lag bei 37,4°C, er hatte sich aber den Zeh an der Bettkante gestoßen und brauchte deshalb noch etwas Bettruhe. Mutter hatte den Dachboden in Magenta gestrichen, meine Schwester hatte der Miezekatze Bier in ihr Näpfchen gekippt.
Tag 6: Vater bei 37,1° C, wollte sich aber sicher sein, dass er auch gesund ist und blieb noch einen Tag liegen. Der gesamte erste Stock trug nun eine violette Raufasertapete. Meine Schwester hat meiner Katze mit Vaters Rasierer einen Streifen Fell wegrasiert.
Tag 7: Vater bei 36,5° C. Seine Nase lief ununterbrochen und der ganze Fußboden war mit benutzten Taschentüchern bedeckt. Das Esszimmer hat einen neuen Purpur-Look. Während meiner Absenz vom Wohnzimmer, die an diesem Tag etwas länger ausfiel, warf meine Schwester die Fernbedienungen in den Müll und klebte die Katze mit Panzerband an den Deckenventilator.
Die Krönung war allerdings, ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Tag, als sie meinen Kaffee trank und für den Rest des Tages die Wand im Esszimmer hoch und runter gelaufen war, bis sie schließlich abends in der Position eines Kopfstandes vor Erschöpfung endlich eingeschlafen war.
Am achten Tag wachte ich etwas benommen auf. Zuerst dachte ich, dass das Licht nicht funktionieren würde, aber dann merkte ich, dass meine Augen bloß völlig mit Eiter verkrustet waren und sich nicht öffnen ließen. Mein Kopf fühlte sich seltsam schwer und träge an, ich hatte Kopfschmerzen, als hätte ich seit Ewigkeiten eine Koffeinunterversorgung. Ich war müde und hatte heiß. Mein Hals schmerzte und ich bekam schlecht Luft.
Noch im Schlafanzug trottete ich in die Küche, wo meine Eltern saßen und frühstückten. Noch im Türrahmen stehend räusperte ich mich und sagte: „Mudda, isch bin krank.“
Eine halbe Minute später hatte sich meine Mutter wieder in die Handwerkerklamotten geschmissen und verlegte unter Eierliköreinfluss lila Pflastersteine in der Einfahrt. Mein Vater entschuldigte sich, er müsse ganz dringend die Hecken schneiden.
Naja, wenigstens hatte ich jetzt meine Ruhe, dachte ich mir. Mit einer Kanne heißem Earl Grey mit Honig kuschelte ich mich im Gästebett meiner Eltern ein und legte mir eine 11-stündige Dokumentation über den zweiten Weltkrieg auf den Bildschirm. Obwohl ich es mir gemütlich machte, ging es mir zunehmend schlechter. Das einzige Mal, als ich das Thermometer anlegte, zeigte es 40,2C. Mindestens die Hälfte meiner übrigen Urlaubszeit verbrachte ich bewusstlos, jegliche meiner Hilferufe wurden von meiner Familie konsequent ignoriert.
Eine Woche später erwachte ich aus dem Koma – ich wog 26 Kilogramm weniger, aber ich hatte kein Fieber mehr. Beim Verlassen des Gästezimmers roch ich schon den bestialischen Gestank von Alkohol und Eiern. Sämtliche Innenräume wie auch die Außenbereiche des Grundstücks waren nun mit einer Variation eines zarten rötlichen oder violetten Farbtons versehen. Meine Mutter lag völlig betrunken mit einer halbleeren Flasche Eierlikör im Gemüsebeet und sang alte Schlager, während mein Vater die als Sichtschutz konzipierte Gartenhecke mittlerweile auf eine Höhe von 30 Zentimetern herab getrimmt hatte und sich der Grünschnitt in der Einfahrt turmhoch auftat.
Ich vernahm ein nach Porzellan klingendes Kratzen vom Boden aus, direkt unter mir. Ein Blick herab zeigte mir meine auf die Dicke eines Gartenschlauchs abgemagerte Katze, die mir ihr leeres Futternäpfchen zuschob. Mit Freuden schmierte ich meiner Katze und mir je ein Lyonerbrötchen mit Senf.
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