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Frühjahrsputz

  • Autorenbild: The Machine
    The Machine
  • 2. Juli 2022
  • 12 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 22. Sept. 2022


Der 16.04.2022, 5:35 Uhr. Draußen waren es (noch) 6° Celsius, leicht bewölktes Wetter, aber in der noch herrschenden Dunkelheit bemerkte man das nicht so sehr. Der Wind wehte mit einer Geschwindigkeit von zwei Knoten aus Westsüdwest, das konnte ich am Geknarze des Balkongestänges erhören. Ich war wach. Das konnte ich daran erkennen, dass der Hahn in der Nachbarschaft sich den Adamsapfel aus dem Hals krähte, einzig und alleine um mir schon vor meiner ersten Tasse Kaffee auf den Sack zu gehen.


Mein erster Urlaubstag für dieses Jahr. Mal ganz abgesehen davon, dass meine nähere Verwandtschaft dafür sorgen würde, dass ich die täglichen achteinhalb Stunden mehr nicht sinnvoll nutzen können würde, hatte ich mir selbst ein paar Arbeiten vorgenommen. Reinigungsarbeiten, um genau zu sein. Der harte Winter war überstanden, aber dementsprechend musste ich auch meine Wohnung aus dem Winterschlafmodus bringen.


Hochmotiviert sprang ich also aus meinem Bett – und trat sofort in einen nicht ganz zu Ende gegessenen Keks, der auf dem Teller lag, den ich am Vorabend mit ins Bett genommen hatte, um dort zu essen. Glücklicherweise lagen überall auf dem Weg zur Tür verteilte Handtücher auf dem Boden, sodass ich die nun unter meiner Fußsohle befindlichen Krümel abstreifen konnte. Einige der Handtücher waren sogar noch feucht.

Als ich meinen ersten Schritt in den Flur machte, kam mir ein fürchterlicher Mief entgegen. Entweder hatte ich irgendwo einen Teller von Mutters Linsensuppe unbeaufsichtigt rumstehen lassen oder den Mülleimer seit Monaten nicht geleert. Vermutlich beides.

Ich schlurfte durch die Kleiderberge, vorbei an dem Sideboard, auf dem die Post der letzten beiden Quartale bis unter die Decke gestapelt war, zum Esszimmer. Ich achtete nicht mehr genau auf meine Umgebung, aber ich konnte das stetige Knirschen alter Snacks unter meinen Füßen hören, also musste da wohl noch was liegen. Ich erreichte den Tisch, wo nebst einer Kollektion verschiedensten Geschirrs, dass ich mit ebenso variantenreichen Soßen verziert hatte, meine Tablettensammlung aufbewahrte. Welche musste ich heute noch gleich nehmen? Egal! Ich nahm einfach von jeder Sorte eine: Eine L-Thyroxin, eine Vitamin-D, eine Aspirin, eine Tavor, eine Ceterizin und eine von den blauen Pillen mit dem V. Ich spülte die Medikamentenmischung im Vorbeigehen mit dem Rest Bier herunter, der sich in der angebrochenen Flasche auf dem Fensterbrett befand.


Ich erreichte endlich die Küche, um mir dort meinen morgendlichen Kaffee zu brauen. So, fertig, fehlte nur noch Milch. Ich öffnete den Kühlschrank, um mir die Milch herauszunehmen.

„Alter, mach mal dicht! Es gibt Leute, die schlafen um diese Uhrzeit noch!“, rief mir die piepsende Stimme eines pubertierenden Gartenzwerges aus dem Kühlschrank entgegen, ehe sich die Tür scheinbar von selbst zuzog.

Verdutzt rieb ich mir die Augen, um zu checken, ob ich auch wirklich wach war. Ich entschied, den Kühlschrank vorsichtig nochmal zu öffnen. Das Erste, was mir ins Auge fiel war, dass sämtliche Wände von einem Moos ähnelden, grünlichen Gewächs bewachsen waren. Auf der Obersten Ebene tropfte Wasser aus einer nicht korrekt zugedrehten Sprudelflasche, dass sich seinen Weg zum Rand der Etage und dann in die Kühlschublade ganz unten suchte – wie ein kleiner Wasserfall. Auf der Unteren Etage stand eine alte Tupperbox, die mir Mutter letzte Weihnachten mit übrigem Essen gefüllt hatte – Hackbraten und so. Dies schien der Ursprung aller gedeihenden Vegetation zu sein. Ich hatte ein kleines Utopia in meinem Kühlschrank!

„Kollege, das is Hausfriedensbruch“, hörte ich die Stimme von zuvor erneut. Sie kam von der mittleren Etage, wo ein verärgert dreinschauendes, übrig gebliebenes Endstück eines Géramonts, den ich vor Monaten nicht ganz zu Ende verzehrt hatte, sich ein Nest aus einem Eierkarton gebastelt hatte.

Ich schloss und öffnete die Tür des Kühlschranks ein weiteres Mal, um wirklich, wirklich sicher zu gehen, dass ich mir gerade von einem Stück Käse den kriminellen Akt des Hausfriedensbruches vorwerfen lassen musste. Ja, da stand tatsächlich ein Stück Käse im Kühlschrank, das ganz verärgert vor sich hin dampfte und seine Arme vorwurfsvoll verschränkte.

„Ich bezahle hier die Miete“, brummte ich zurück, „Meine Wohnung, mein Kühlschrank.“

„Pff“, ärgerte sich der Käse und deutete auf die Innenseite der Kühlschranktür, „Da steht die Milch, mach das Licht aus, wenn du gehst!“

Ich folgte der Anweisung und beschloss die Tatsache, dass ich mich gerade mit einem überreifen Milchprodukt unterhalten hatte erst nach meiner ersten Tasse Kaffee einzuordnen.


Ich stand erst einmal ein paar Minuten regungslos in der Küche, ehe das Koffein meinen Körper aus dem Halbschlaf erweckte. Ich machte ein paar unbeholfene Schritte hinaus ins Esszimmer. Hier sah es wirklich aus wie'n Sau. Ich wollte mir zunächst eine Agenda erstellen, wie ich was erledigen wollte. Dafür musste ich mir erst einmal einen Überblick verschaffen, was es zu tun gab.

Schlafzimmer, Flur, Esszimmer und Küche hatte ich schon begutachtet. Insgesamt ein Zustand, den nicht einmal die Katastrophenhilfe reparieren könnte. Ins Bad traute ich mich nicht mehr rein, seitdem ich nach dem letzten Stuhlgang die Schwanzspitze eines Kanalligators aus der Kloschüssel habe hängen sehen. Was das Wohnzimmer anbelangt... Ich würde die Situation dort ja gerne begutachten, aber eine Wand aus Amazon-Pappschachteln, mit Leergut befüllten Müllsäcken und Altpapier versperrten mir den Weg dorthin. Ich rüttelte etwas an der Müllwand, um zu sehen, ob ich nicht vielleicht doch irgendwie durchkommen könnte. Aber nein, ich kam nicht durch. Um dieses Problem würde ich mich später kümmern müssen.


Erste Station: Schlafzimmer

Aller Anfang ist schwer. Insbesondere dann, wenn es ums Aufräumen geht und man innerhalb seiner Unordnung erst mal seine Aufräumausrüstung zusammensuchen muss. Der gewiefte Leser erwartet jetzt bestimmt eine Aufzählung völlig absurder Gegenstände, die nur unter den widrigsten Umständen als Reinigungsutensilien zu bezeichnen sind. Ich muss euch an der Stelle enttäuschen. Ich suchte tatsächlich nur Gummihandschuhe, Reinigungsmittel, Schrubber und Besen, einen Eimer, den Staubsauger und den Düsenaufsatz für meinen Kärcher.

In der ersten Etappe ordnete ich alles, was auf dem Boden lag in eine der folgenden drei Kategorien ein: Wäsche, Essensreste und dreckiges Geschirr. Die Wäsche warf ich präventiv ins Treppenhaus, denn die musste eh runter zum Auto, mit dem ich sie später zu meiner Mutter bringen würde.

Die Essensreste sammelte ich in einer der nun frei gewordenen Wäscheboxen, wenn die nur einmal lange genug getrocknet sind konnte man sie noch als Paniermehl benutzen. Ich gönnte mir lediglich noch einen Bissen von Mutter's gutem Asbest-Muffin, den ich unter meinem Nachttisch gefunden hatte, bevor ich ihn auch zum Paniermehl legte. Meine Mutter backte die Dinger nach dem Rezept meiner Großmutter. Sie hatten zwar die Konsistenz von Trockenmörtel und den Geschmack eines Frotteetuchs, aber dafür waren sie endlos haltbar.

Das dreckige Geschirr musste ich vorerst liegen lassen, denn um das wegzuräumen bräuchte ich erst mal eine freie Küche.

Eine halbe Stunde später waren das Bett gemacht, die Gardinen getauscht, gelüftet und meine Utensilien zusammengesucht.


Zweite Station: Balkon

Als ich so das offene Schlafzimmerfenster und die im Wind wehenden Gardinen betrachtete, kam mir eine Idee, wie ich die Müllwand umgehen könnte, die mir den Weg ins Wohnzimmer versperrte. Ich kletterte aus dem Fenster und ließ mich auf den Balkon herab. Auf allen Fensterbrettern entlang des Balkons standen noch unzählige leere Flaschen von meiner letzten Geburtstagsfeier, die mittlerweile zu Insektenhotels geworden sind. Ganz Vorne bei den Karlsberg-Flaschen hatte sich eine Hornissenkolonie eingerichtet, beim Erdinger waren die Bienen, beim Paulaner die Wespen, beim Franziskaner die Hummeln, beim Rothaus summte ein einzelner Maikäfer, beim Benediktiner, dem Göttersaft schlechthin, sonnten sich drei wunderschöne, hellblaue Schmetterlinge. Auf dem Stehtisch stand noch eine leere Dose Oettinger, umgeben von Scheißhausfliegen. Lediglich in der Ecke meines Balkons stand eine einsame Flasche Bitburger 0,0, die nicht einmal ganz ausgetrunken war, ohne jegliche Spur von Leben. Wie auch immer die da hingekommen war - gewisse Dinge hatten scheinbar universelle Gültigkeit, selbst in freier Wildbahn.

Ich versuchte die sich teilweise gegenseitig bekämpfenden Insektenschwärme zu ignorieren und mich der Balkontür zum Wohnzimmer zu widmen. Ich konnte von außen sehen, dass die Tür sogar offen sein musste, weil der Griff in die richtige Position gedreht war. Aus irgendeinem Grund ließ sich die Tür aber nur äußerst schwierig aufdrücken. Ich sammelte noch einmal all meine Kraft und stieß die Tür dann endlich in den Raum hinein.

Was ich beobachtete, erklärte auch den Widerstand: Eine Flut kniehoch stehenden Wassers ergoss sich über mich, spülte mich einmal quer über den Balkon und räumte dabei alle Bierflaschen ab.

Ich überlegte kurz wie es sein konnte, dass in meinem Wohnzimmer das Wasser einen halben Meter hoch gestanden hatte, da fiel es mir ein... Ich hatte im vergangenen Winter, in dem es tatsächlich mal geschneit hatte, den Schnee von meinem Balkon ins Wohnzimmer geschippt, in der Hoffnung, dass es im Sommer drinnen nicht so elend heiß werden würde, ich erinnerte mich. Würde auch erklären, warum bei meinem Vermieter das Wasser von der Decke tropfte, er aber weit und breit keinen Wasserrohrbruch im Haus feststellen konnte. Naja, zumindest war der Balkon schon sauber.


Dritte Station: Wohnzimmer und Esszimmer

Nach dem ersten Schritt ins Wohnzimmer bemerkte ich, dass das durchweichte Laminat die Konsistenz von frisch ausgespucktem Kaugummi besaß. Der Boden musste raus.

Ansonsten sah es im Wohnzimmer aber einigermaßen gut aus, vielleicht ein paar Oberflächen entstauben und fertig. Ich hatte aber auch nicht wirklich viele Gelegenheiten, das Wohnzimmer dreckig zu machen, denn schließlich war ich seit fast einem halben Jahr nicht mehr hier gewesen.

Irgendwie musste ich aber immer noch die Müllwand entfernen, die den Durchgang zwischen Esszimmer und Wohnzimmer noch immer blockierte.

Ich erblickte den Düsenaufsatz für meinen Kärcher, den ich gesucht hatte, wie er aus der Wand aus Altpapierschachteln und Leergut herausragte. Ich zog einmal daran, um ihn wieder in meinen Besitz zu bringen, da verabschiedete sich die Statik der Müllwand und jeder einzelne Bestandteil verteilte sich wahlweise auf dem Boden des Ess- oder Wohnzimmers. Ein Problem weniger.

Ich verbrachte gut eine halbe Stunde damit, das gerade angerichtete Chaos wieder aufzuräumen. Ich verpackte die Amazon-Kartons so geschickt ineinander, dass sie kaum Platz verbrauchten. Nach demselben Prinzip pflegte ich auch immer Geburtstagsgeschenke einzupacken, deshalb behielt ich die vielen Schachteln ja auch. Der Sinn dahinter war natürlich, dass das Auspacken so umständlich für das Geburtstagskind werden würde, dass ich im Folgejahr keine Einladung mehr bekommen würde (Hat bis jetzt nicht funktioniert, waren wohl zu wenige Schachteln).

Altpapier und Leergut beförderte ich in alter Gewohnheit raus ins Treppenhaus.


„Ey Chef“, vernahm ich auf einmal wieder die Stimme des Käsestücks, das ich eigentlich erfolgreich verdrängt hatte. Ich drehte mich um 180°, um mich von der Anwesenheit des Géramont-Endstücks zu überzeugen, aber ich konnte niemanden erblicken.

„Hier unten, du Blödmann“, piepste der Käse mich von unten an. Er stand praktisch direkt vor meinen Füßen und hielt eine volle Tasse Kaffee in seinen Händen (gerade so).

„Erfrischung gefällig?“, fragte er.

Kommentarlos ließ ich mir von einem lebendig gewordenen Milchprodukt den Kaffee überreichen.

„Irgendwie muss ich mich ja dafür erkenntlich zeigen, dass ich seit Jahren mietfrei in deinem Kühlschrank wohnen darf“, meinte der Käse und hüpfte auf einen freien Stuhl.

Es waren also schon Jahre, dachte ich mir im Stillen und trank einen Schluck Kaffee. Guter Stoff, den der Käse da gebraut hatte.

„Hast du einen Namen?“, fragte ich, immer noch leicht an der Existenz eines sich selbst bewussten Käselaibs zweifelnd.

„Jürgen“, informierte mich der Käse. Wer auch immer ihm diesen Namen gegeben hatte.

Der Käse und ich kamen kurz ins Gespräch. Er erzählte mir unter anderem, dass seine Mutter, ein Laib Edamer, mal ein Reinigungsunternehmen besaß, bevor sie in Scheiben geschnitten und in Plastik verpackt wurde. Wäre er kein Käse gewesen, hätte mich diese Geschichte verstört. Mal ganz davon abgesehen, dass diese Geschichte an sich schon verstörend genug ist. Der Punkt ist: Ich hatte soeben eine weitere Arbeitskraft mit Fachwissen aus dem Reinigungs-Dienstleistungssektor rekrutiert.


Es klingelte an der Tür. Ich öffnete, mein Vermieter stand vor mir. Er strahlte nicht gerade die pure Freude aus. Er beschwerte sich über die Tatsache, dass das komplette Treppenhaus mit Dreckwäsche und Altpapier zugestellt war, sein Gemüsegarten unter Hochwasser stand und jemand einen Altglascontainer auf seiner Terrasse entleert hatte. Außerdem würden im ganzen Garten wütende Insekten hin und her fliegen.

„Eigenartiges Wetter heute“, kommentierte ich die Situation, „Im Vorgarten meiner Eltern hatte es mal Mauersteine geregnet.“

Mein Vermieter ließ sich von meinen Worten nicht täuschen und knurrte bedrohlich.

„Ich möchte den Zustand meines Wohnzimmerbodens beanstanden“, teilte ich meinem Vermieter mit, „Die Dielen sind ganz morsch.“

Wir einigten uns darauf, dass ich das Treppenhaus wieder in seinen Ursprungszustand versetzen würde und er mir im Gegenzug ein, zwei Palettenladungen Laminat bezahlen würde. Legen müsste ich es aber selber.

„Ich mach das“, erklärte sich Jürgen der Käse bereit, als der Vermieter weg war, „Reiß du in der Zeit das morsche Holz raus.“

Ich überlegte einen Moment. Die schmutzige Wäsche musste zu meiner Mutter gefahren werden, das Altpapier zum Container.

„Hast du 'nen Führerschein?“, fragte ich Jürgen.

„B, C und T“, verkündete er stolz. Wo auch immer ein laktosehaltiges Nahrungsmittel gleich drei Führerscheinklassen her bekam, ich drückte Jürgen meinen Autoschlüssel in die Hand und freute mich an der Stelle über gesparte Arbeit.


Es dauerte eine Weile, dann hatte ich das aufgeweichte Laminat vom Wohnzimmerboden entfernt, da kam mir eine Idee: Ich könnte ja gleich in Esszimmer und Flur auch noch neues Laminat legen, dann würde ich mir das Kehren und Wischen sparen. Ich teilte Jürgen per SMS mit, dass ich etwas mehr Laminat benötigen würde und machte mich anschließend an die Arbeit, den Rest meines Bodens raus zu reißen.

Etwa eine Stunde später spazierte dann endlich Jürgen mit einer Packung Laminat über der Schulter durch meine Wohnungstür. Er stellte das Laminat auf dem mittlerweile blanken Betonboden ab, zückte Stift und Klemmbrett und setzte sich seine Lesebrille auf.

„Ohren aufgesperrt, Chef“, verschaffte er sich meine Aufmerksamkeit, „Das Laminat liegt im Treppenhaus, das Altpapier ist entsorgt, bereits die dritte Tour Wäsche dreht sich in der Waschmaschine deiner Mutter. Das Leergut habe ich zum Supermarkt gebracht und vom Pfand eine Packung Merci als Entschädigung für deinen Vermieter besorgt. Mit dem Rest habe ich deine Karre aufgetankt.“

Ich nickte ihm beeindruckt zu. Durchaus nützlich dieser Jürgen.



Vierte Station: Flur und Badezimmer

„Sag mal, willst du nicht endlich mal was gegen diesen Mief machen?“, fragte er mich, als er gerade seine Lesebrille in der Brusttasche seines Karohemdes verstaute, „Dein Flur riecht ja schlimmer als ich.“

Schlagartig stieg der Gestank auch mir wieder in die Nase. Ich hatte mich so daran gewöhnt, der Geruch war mir gar nicht mehr aufgefallen. Ich identifizierte den vollen Mülleimer am Ende des Flurs als die Quelle des üblen Miefs. Vorsichtig öffnete ich die Mülltüte, um zu sehen, welche Form von Leben sich gerade in diesem Mülleimer entwickelte.


Eine Wolke aus dunkelgrauem bis schwarzem Staub stieg mir entgegen. Moment – Staub hat normalerweise keine Flügel oder? Tausende, ach was! Milliarden und Abermilliarden kleiner Fruchtfliegen stiegen in die Lüfte empor und verdunkelten das Licht. Sie setzten sich auf allen Oberflächen nieder, sodass man kaum noch erkennen konnte, dass meine Tapete eigentlich weiß war.

Jürgen hämmerte sich die flache Hand auf die Stirn.

„Wann zum Teufel hast du denn das letzte Mal den Müll raus gebracht?“, ärgerte er sich. Gemessen daran, dass er lange genug in meinem Kühlschrank gelegen hatte, um ein Bewusstsein zu erlangen, gab ich ihm an der Stelle lieber keine Antwort.

„Folgender Plan“, raffte Jürgen sich sofort zusammen und kritzelte eine Skizze auf sein Klemmbrett, „Wir schließen die Hochdruckpumpe deines Kärchers an deinen handelsüblichen Staubsauger an und legen mit dessen Schlauch eine Leitung nach draußen. Wir versiegeln den Flur hermetisch und bauen ein Vakuum auf, sodass die ganzen Fliegen hinaus gesogen werden.“

Verdutzt stemmte ich die Hände in die Hüfte.

„Das wäre auch mein erster Instinkt gewesen“, behauptete ich, „Aber wie kommst du darauf?“

„Ich habe Maschinenbau studiert“, sagte Jürgen. Auch noch gebildet, dieser Käse.

Während Jürgen also Kärcher und Staubsauger auseinandernahm und mechanisch miteinander kombinierte, klebte ich alle Schlitze an den Türen und Türrahmen mit Panzerband ab, um sie luftdicht zu machen.

„Ganz toll, wir zwei Spezialisten haben uns selbst in dem Raum eingeschlossen, den wir einem Vakuum aussetzen wollen“, bemerkte ich, als ich mit Kleben fertig war.

„Nee“, leugnete der Käse, „Das hast du ganz alleine fabriziert. Aber kein Thema, wir gehen ins Badezimmer. Da müssen wir eh rein, weil der Staubsaugerschlauch nur lange genug ist, um ihn durch Badezimmerfenster nach draußen zu leiten.“

„Ich sehe da nur ein Problem“, teilte ich mich mit, „Der Kanalligator.“

Jürgen seufzte überanstrengt und rieb sich mit der Hand die Stirnfalten. Wortlos entriss er mir das Panzerband und marschierte strammen Schrittes ins Badezimmer, dessen Tür er hinter sich verschloss. Ich hörte nur solche Geräusche durch die Tür vordringen, wie sie in Bud-Spencer-Streifen immer als Soundeffekt benutzt wurden. Dann noch einmal, wie die Klospülung betätigt wurde und letztendlich das Winseln eines eingeschüchterten Hündchens.


Vorsichtig betrat ich das Bad, um nach dem Rechten zu sehen. In der Badewanne lag ein drei Meter langer, graugrüner Alligator, der an allen Vieren mit Panzerband zusammengebunden war. Um seine lange Schnauze hatte Jürgen auch ein paar lagen Klebeband gewickelt. Ängstlich suchte das Krokodil mit seinen Augen nach meiner Hilfe, während Jürgen etwas Wasser in die Wanne einließ, um es dem Alligator etwas heimischer zu machen.

Wenn ich an diesem Tag eines gelernt habe, dann dass ich die Wege von Mutter Natur besser nicht infrage stellen sollte. Ich befürchtete lediglich, dass der Mensch bald von Géramont als Spitzenprädator vom oberen Ende der Nahrungskette verdrängt werden würde.

Wir setzten unseren Plan endlich in die Tat um: Mithilfe der Macht der Physik entleerten wir meinen Flur von jeglichem Leben. Anschließend führten wir einen kontrollierten Druckausgleich durch und renormalisierten die Aufenthaltsumgebung des Flures.


Den Rest des Tages verbrachten wir beide damit, das Laminat in meiner Wohnung zu verlegen, hier und da noch durch zu wischen, den Müll raus zu bringen, die Post zu sortieren und zu Öffnen, meine Ablage endlich mal abzuarbeiten, die Fenster zu putzen, und so weiter... Für die Küche brauchten wir etwas länger, weil wir die seit dem Kirschkernkissen-Zwischenfall ausgebrannte Mikrowelle austauschen mussten. Die Spülmaschine hat eine ganze Packung Spültabs auf einmal gefressen, aber dafür war ja auch das ganze Geschirr in einer Charge fertig. Aus den Holzresten des Laminats bastelte Jürgen sogar ein richtiges Insektenhotel, das wir auf dem Balkon aufhängen konnten.

Mussten wir uns nur noch überlegen, was wir mit dem gefesselten Kanalligator anstellen sollten. Da kam mir die Idee:

„Mein Vermieter hat sich heute Morgen einen Teich machen lassen, wo vorher sein Gemüsegarten war“, sagte ich zu Jürgen. Schon sprangen wir auf und transportierten den gefesselten Kanalligator gemeinsam vom Bad durch die Wohnung hinaus auf den Balkon. Mit Schwung beförderten wir das 3 Meter lange Reptil über das Balkongeländer und beobachteten es dabei, wie es sich im gefluteten Gemüsegarten meines Vermieters gemütlich machte.


Die Wohnung war blitzeblank und roch angenehm, frisches Laminat war gelegt, das Geschirr war sauber und eingeräumt, genau wie die Wäsche, Müll und Altpapier waren entsorgt, der Alligator hatte ein neues Zuhause, alles war perfekt. Lediglich den Kühlschrank wollte ich so lassen, wie er war. Jürgen und ich saßen gemeinsam auf dem Balkon und köpften uns im Sonnenuntergang zwei Flaschen Karlsberg.

 
 
 

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