Im Wasgau
- The Machine

- 27. März 2021
- 7 Min. Lesezeit
Zunächst einmal: Wer oder was ist ein Wasgau? Nun, wer wirklich fragen muss, dem sei seine Unwissenheit verziehen, denn die Erklärung folgt: Ein Wasgau ist ein in freier Wildbahn häufig anzutreffendes Lebensmittelgeschäft, aus dem viele Bewohner meines Heimatortes Quierschied im schönen Saarland ihre täglichen Bedarf erwerben (zum Beispiel Dachziegel oder Rindenmulch).
Eine kleine, weitere Info am Rande: Der gemeine Saarländer nimmt allgemein sein Mittagessen um 12 Uhr mittags zu sich, jedoch ergab sich im Örtchen Quierschied aufgrund seiner Vergangenheit als Machtstandort der Kohleindustrie des 20. Jahrhunderts eine kleine Besonderheit: Um halb eins wird gegessen.
Eines eigentlich recht ruhigen Freitages, als ich meinen persönlichen Interessen in meinem Zuhause frönte, schreckte mich das Heulen einer Sirene auf. Das konnte nur zwei Dinge bedeuten:
A) Die Russen kommen oder
B) viel wahrscheinlicher: Mutter ruft an.
Ich quälte mich durch das Telefonat in dem Wissen, dass ich nun wieder eine unangenehme Aufgabe übernehmen sollte, für die meine Mutter zu beschäftigt und mein Vater zu faul war. Es stellte sich heraus: Ich sollte einen Einkauf erledigen, denn meine Mutter hatte wieder einmal ein paar Zutaten für ihren heutigen Hackbraten vergessen. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass es nun auf die Zeit ankam. Der Zeiger überschritt gerade die 11. Stunde des Tages, als ich in der vollen saarländischen Nationaltracht (Schürze, Bätschkapp und Grillzange im Holster) aus meiner Wohnung sprintete.
Innerhalb weniger Sekunden brachte ich meinen Wagen auf 70 Sachen und hetzte ihn im ersten Gang einmal die Straße runter, zum Wasgau-Parkplatz. Es fiel mir wieder ein: Mittagszeit ist Rentnerzeit! Auf jedem zweiten Parkplatz stand ein Rollator oder elektrischer Rollstuhl. Ich brauchte mir gar keine Illusionen zu machen, der Parkplatz war rappelvoll – also stellte ich meinen Golf einfach über einen Smart und schnappte mir einen Einkaufswagen.
Zu dem Zeitpunkt, als mir die Schiebetüren den Weg nach drinnen freiräumten, lief es mir eiskalt den Rücken herunter: Marliese! Diese trällernde Stimme schepperte durch den ganzen Laden und ließ beinahe das Trommelfell meines rechten Ohres zerbersten.
Wer oder was ist eine Marliese? Allgemein kann ich das nicht beantworten, aber in diesem speziellen Fall ist sie die örtliche Auskunft (ganz ohne Telefon). Es gibt nichts, dass sie nicht besser weiß, nichts, von dem sie keine Ahnung hat und vor allem niemanden, dem sie das nicht klar macht.
Welcher Ort und welche Zeit wären dafür besser geeignet, als der Wasgau zur Hochzeit, vollgestopft mit Rentnern?
Erste Station: Die Gemüseabteilung. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum Geschäfte im Saarland so was haben, meiner Meinung nach gehört Salat entweder zwischen die Tulpenbeete oder auf den Kompost. Bevor mir jemand mir Veganismus kommt: Das ist im Saarland illegal und wird strafrechtlich verfolgt.
Ich wollte natürlich schnellstmöglich aus dieser Geduldsprobe wieder heraus, doch die einzigen beiden Ausgänge zur Getränkeabteilung waren versperrt: Auf der einen Seite eine Verkäuferin, die ihre Ameise quer über den Gang aufgestellt hatte und gerade dabei war, jede Frucht einzeln von der Palette in die Auslage zu legen, auf der anderen Seite eine Frau, die ihren Einkaufswagen nicht minder geschickt platzierte und dem künstlichen Gemüsebeet einen Blick schenkte, als würde sie gerade versuchen, den Unterschied zwischen Grünschnitt und Sellerie zu begreifen (es gibt keinen).
Geduld, sagte ich mir. Noch 75min bis zum Essen.
Zweite Station: Die Getränkeabteilung. Die Getränkeabteilung sollte sich als eine zur Gemüseabteilung gleichwertige Herausforderung präsentieren. Nur anstatt diesmal den Ekel auszuhalten, musste ich mich diesmal zurückhalten, nicht im Vorbegehen, ganz aus Versehen ein, zwei Kasten Karlsberg Urpils einzuladen. Am Öttinger kam ich aber recht schnell vorbei und wenn ich jemals eine Urintherapie machen sollte, dann überlege ich mir das mit dem Bitburger noch einmal. Noch 70 min bis zum Essen.
Dritte Station: Die Fleischtheke. Das, was für die meisten Leute die Bar ist, ist für den Saarländer die Fleischtheke. Auf über 100 Metern war die weltweit größte Vielfalt an Grillspezialitäten und Fleischvariationen ausgelegt. Ein Ort zum Abschalten, ein Ort zum plaudern, ein Ort, um die Seele einfach mal baumeln zu lassen.
Selbstverständlich war das dementsprechend die begehrteste Örtlichkeit innerhalb des Ladens. Ich blickte kurz auf den Einkaufszettel: Von hier brauchte ich 13kg gemischtes Hack und ein Ring Lyoner (auch bekannt als "Ryonerling"). Eine recht kleine Bestellung für einen Saarländer an der Fleischtheke, aber ich war ja auch nur zwischendurch hier.
Während ich da so wartete, überblickte ich einmal schnell die Angebote, die nebst der Theke aushingen. Ich erspähte eine Wurst, die als „Wellness-Salami“ betitelt wurde. Wellness-Salami, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Wird davon die Haut zart oder wie kann ich mir das vorstellen?
Ich wurde dann telefonisch von einem guten Freund aufgeklärt, dass es sich dabei um eine neue Modeerscheinung handelte, die der Saarländer anstatt Gurkenscheiben auf die Augen legen konnte, wenn er gerade in heißer Linsensuppe badete.
Langsam wurde mir das Warten zu blöd. Jeder weiß, ein Saarländer wird bereits nach 32 Sekunden ungeduldig. Ich richtete meinen Blick abwechselnd nach Vorne und auf das Ziffernblatt meiner Uhr, wobei ich neben dem Wortschwall von Marliese auch hörte, wie so ziemlich jeder in der Reihe vor mir ein paar Kilogramm Hack bestellte.
Die Zusammenfassung: Ich wartete in etwa ein dreiviertel Jahrhundert an der Fleischtheke darauf, dass die Metzgereifachverkäuferin 6 metrische Tonnen gemischtes Hackfleisch vorbereitete. Anscheinend wollte heute das halbe Saarland einen Hackbraten zubereiten.
Nachdem der Radlader endlich das Hackfleisch in meinem Einkaufswagen abgeladen hatte, wollte ich mich um den Ring Lyoner kümmern. Es war das erste Mal, dass ich nur einen einzigen Ring besorgen sollte, also hatte ich nun die Qual der Wahl zwischen den drei Flaggschiffen der Wurstindustrie.
Höll. Nicht unbedingt der beste, aber dafür entfällt das Schutzgeld an die Höll's Angels (lokale Bikergang).
Schröder. Mein persönlicher Favorit, was den Geschmack angeht.
Schwamm. Definitiv ein Qualitätslieferant für Grillgut und Markenzeichen des Saarlandes.
Schweren Herzens entschied ich mich entgegen meines Favoriten für Schwamm und verlud den göttlichen Wurstring. Noch 40min bis zum Essen.
Der restliche Einkauf verlief recht problemlos, ich musste nur hin und wieder ein Kind aus dem Weg schubsen, um durchzukommen. Letzte Station: Kasse.
Hätte ich an diesem Morgen auch nur ansatzweise geahnt, was hier auf mich zukommen würde, dann wäre ich in meinem Bett liegen geblieben und hätte mein Handy ausgeschaltet. Von 7 Kassen war nur eine besetzt, an der sich ein Großteil der örtlichen Bevölkerung zum Kaffeekranz versammelt hatte. Gab es denn keinen anderen Laden in der Nähe, in dem man hätte einkaufen können?
Vornweg sei schon mal angemerkt, dass die Kassiererin natürlich die Aushilfe aus dem Nachbarort war, sich also mit der wahrscheinlich baugleichen Kasse dieser Filiale nicht auskannte und jeden Artikel mehrfach einscannen musste.
Ganz vorne versuchte eine zierliche, nein eher spindeldürre Blondine, drei 50l-Säcke Blumenerde auf das Kassenband zu legen. Ein einzelner Sack davon hatte wahrscheinlich mehr Masse, als diese blonde Salzstange (und wahrscheinlich auch mehr IQ-Punkte).
Dahinter stand ein älterer Herr, der stolz die einsame Dose eingelegten Hering präsentierte, für die er extra einen großen Einkaufswagen geholt hatte. Ich stellte mir vor, wie lange er vor dem Konservenregal gestanden hatte, bis er endlich die eine Dose auserwählt hatte, die er diese Woche in seinem Kühlschrank vergessen und 7 Monate später verzehren würde.
An dritter Stelle stand ein mittelalter Herr in Feinripp-Unterwäsche mit Fettflecken, ledernen Hosenträgern, Sandalen über hochgezogenen Strümpfen und einem Sixpack 0,5l-Dosenbier in den Händen. Er erinnerte mich entfernt an meinen Cousin.
Nummer Vier war ein einsamer, aber überfüllter Einkaufswagen, der für seinen Besitzer in der Schlange warten sollte, während jener noch vereinzelte Gegenstände zusammen suchte. Darin lagen etliche Packungen Klopapier, ein oder zwei Packungen Einmal-Waschlappen, ein Düsenaufsatz für einen Hochdruckreiniger und 400 Milliliter Rahm. Da wollte wohl jemand Linsensuppe kochen.
Ich würde gerne sagen 'zu guter Letzt' kam ich, aber ich war nur Nummer 5 in einer Schlange von Hunderten. Bis ich endlich meine Waren auf das Kassenband legen konnte, war ich längst um 30 Jahre gealtert. Freudig zückte ich meinen Geldbeutel, als die dicke Frau vor mir sich die Hand an den Kopf schlug, dass es so schepperte, als würde der Metzger gerade wieder ein Schnitzel plätten.
„Jetzt hab' ich doch meinen Geldbeutel vergessen!“, rief sie in einer unschuldig-weiblichen Stimme, obwohl ihr Erscheinungsbild eher auf Diabetes Typ II schließen ließ. So schnell wie ihr möglich hoppelte sie aus dem Laden, ließ aber ihren leeren Einkaufswagen vor mir, sowie all ihre Waren auf dem Kassenband zurück.
Mein Körper konnte sich nicht ganz entscheiden, ob er nun in Ohnmacht fallen oder explodieren sollte – jedenfalls war ich drauf und dran, selbst eine zweite Kasse zu öffnen und das Wechselgeld zu behalten.
Es waren 15 Minuten bis zum Essen, als ich endlich dran war. Ich legte gerade den Ring Lyoner auf das Kassenband, als der Ansageton aus den Deckenlautsprechern tönte: „Kasse 2 bis 7 jetzt geöffnet!“
„Oh legg, da gehen wir mal gerade nach vorne an die offene Kasse!“, plärrte die Stimme von Marliese, die es sich in der Zwischenzeit nicht hatte nehmen lassen, weitere Binsenweisheiten durch den Laden zu zwitschern.
Mit einem gewaltigen Flatschen pfefferte ich den Haufen Hack auf den Boden und trampelte darauf herum, als Marliese ihren leeren Einkaufswagen an der Nebenkasse einfuhr. Sie griff über das Kassenband und legte einen einzelnen Schokoriegel auf. Diese Frau kam wirklich nur zum reden hierher.
Ich brachte den Bezahlvorgang schnellstmöglich hinter mich, als mich wieder einmal eine Sirene zusammenzucken ließ. Der Blick auf mein Telefon bestätigte meine düstere Vorahnung: Mutti!
Ich sollte nun doch auch noch einen Karton Eier mitbringen, die wären wichtig. Ich entsorgte mein Telefon im nächsten Mülleimer und belud eilig mein Auto. Noch 10 Minuten bis zum Essen.
Ich raste querfeldein durch Vorgärten und über Spielplätze, bis ich endlich mit gewohntem Karacho in der Einfahrt meiner Mutter landete, kratzte schnell noch den Smart und ein paar Schulranzen aus dem Radkasten und gab meiner Mutter das Hack dann noch vor Betreten des Hauses durch das Fenster herein. Noch 2min bis zum Essen.
Als ich dann endlich drinnen war, musste ich mit Empörung feststellen, dass meine Familie sich in der Zwischenzeit eine Pizza bestellt hatte (Für jeden eine, außer mir natürlich, denn sie wussten ja nicht, was ich draufhaben wollte).
„Ich dachte, in der kurzen Zeit bekomm' ich eh keinen Hackbraten mehr hin“, sagte meine Mutter.
„Dann sparen wir uns den eben für Weihnachten“, reagierte ich absolut verärgert und innerlich tot, während meine Katze auf dem Küchentresen sitzend den ganzen Ring Lyoner in einem Satz verschlang. Halb eins.


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