Nachts
- The Machine
- 13. Nov. 2021
- 14 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Jan. 2022
Wir schreiben das Jahr 2017, es ist das Ende eines heißen Sommers, Samstagabend. Ich wohnte noch bei meinen Eltern. Ich fütterte meine Katze und machte mich bettfertig. Ich zog mich in mein Kellerzimmer zurück und öffnete dort eines der großen Fenster, die draußen durch eine Kuhle mit der Oberfläche verbunden waren, um etwas frische Luft hereinzulassen. Ich machte es mir in meinem Bett gemütlich und stellte mir ein Hörbuch an, um langsam einzuschlafen. Allerdings, wer mich und mein Glück kennt, der weiß, dass ich diese Nacht wohl nicht ganz so verbracht habe, wie ich es gerne hätte.
Akt I: Die Katze (22h 00 bis 23h 00)
Es dauerte eine Weile bis ich zu diesem Punkt kam, aber allmählich döste ich weg, bis – das Kratzen von Katzenkrallen an meiner Zimmertür aus dem Flur mich wieder weckte. Ich konnte meiner kleinen Miezekatze doch nicht den Wunsch verwehren, in mein Zimmer einzutreten, also sprang ich auf und öffnete die Zimmertür mehr als ausreichend, sodass meine Katze hindurch treten konnte. Sie saß aber seelenruhig auf ihrem Hintern und blickte mich schief an, genau 10 Zentimeter vor dem Türrahmen und nichts tuend. Ich versuchte alles, ich hampelte rum, änderte den Öffnungswinkel der Tür, warf mit Leckerlis, aber nein. Katze saß immer noch wie verankert am selben Fleck.
Folglich, weil Madame nicht vorhatte, noch einzutreten, verschloss ich die Tür wieder und legte mich wieder hin. Doch kaum berührte ich mit meinem Hintern die Matratze, begann meine Mieze wieder an der Tür zu kratzen. Auf ein Neues. Alles des zuvor genannten versuchte ich erneut – ohne Erfolg.
„Okay“, sagte ich mir, „Dann lasse ich die Tür einen Spalt offen, sodass Fräulein von und zu Etepetete nach eigenen Belieben in die Räumlichkeit herein spazieren könne.“
Alsbald ich meine Schlafposition im Bett wieder erreichte, bemerkte ich meinen Fehler auch schon: Über drei Stockwerke hinweg und durch zwei geschlossene Türen hindurch vernahm ich das ohrenbetäubende Schnarchen meines Vaters, das sich in etwa so gesund anhörte wie der durchlöcherte Auspuff eines 30 Jahre alten Opel Corsa.
Ein weiteres Mal stand ich auf und begab mich ans andere Ende des Raumes, zur Tür. Ich packte meine Katze und setzte sie genau 10 Zentimeter auf der anderen Seite des Türrahmens ab, IN meinem Raum, HINTER einer verschlossenen Tür. Kein Schnarchen, kein Kratzen.
Ich -> Bett. Ich war wieder am Eindösen, als ich das Tapsen kleiner Katzentatzen auf dem Fliesenboden vernahm, bald darauf, wie sich die Matratze unter dem Leichtgewicht meiner Katze eindrückte. Sie arbeitete sich langsam meinen Körper entlang, bis ich schon ihre Schnurrhaare in meinem Gesicht bemerkte. Sie roch seltsamerweise etwas nach Motoröl, aber bevor ich diese Feststellung zu einem Gedanken verarbeiten konnte, drehte sie eine Pirouette und ließ sich mit dem Hintern voran auf meinem Gesicht nieder, wo sie begann sich zu säubern.
Wütend packte ich mit der einen Hand meine Katze und betätigte mit der anderen den Lichtschalter über meinem Nachttisch.
Mein zweiter Fehler für diese Nacht, denn so konnte ich erkennen, dass meine tatsächliche Katze noch genau dort saß, wo ich sie abgesetzt hatte – nämlich 10 Zentimeter vor der Tür. Aber was hatte ich dann mit meiner Hand gepackt? Ich richtete meinen Blick nach rechts und starrte in die Augen eines in Panik geratenen Marders, den ich aus der Angst heraus quer durch das Zimmer schleuderte. Sobald er wieder auf allen Vieren war, sprang er über meinen Stuhl zum Schreibtisch, warf alle möglichen Behälter mit Büroutensilien um, die ich dort deponiert hatte, flitzte dann über die Fensterbank und schließlich wieder durch das offene Fenster hinaus, so wie er vermutlich auch reingekommen war.
Ich schenkte meiner Katze, die immer noch wie angewurzelt vor der Tür saß, einen verwunderten Blick und bekam nicht einmal ein Miauen als Antwort. Genervt ließ ich mich auf den Rücken fallen und knipste das Licht aus. Es schien, als sollte ich endlich einschlafen dürfen.
Akt II: Luftangriff (23h 30 bis 00h 30)
Etwas von der Tatsache gestört, dass ich auf mehr als eine Stunde Schlafzeit verzichten musste, gelang es mir endlich, zur Ruhe zu kommen und einzuschlafen. Ich träumte von Rambo und seinen Abenteuern – dachte ich. Wie sich einige Momente später herausstellen sollte, ließ mein Hirn sich von den tatsächlichen Wahrnehmungen in meinem Zimmer beeinflussen, als es mir diesen „Traum“ vorsetzte. Ohne es wirklich zu merken, transzendentierte ich wieder in die Realität zurück. Ich spürte einen viel zu starken Windzug dafür, dass es draußen so windstill war. Und ich hörte immer noch das Rotorengeräusch eines Apache-Kampfhubschraubers, aber ich war definitiv wach.
Entnervt, aber entschlossen den Grund meiner Schlafbehinderung herauszufinden, betätigte ich wieder den Lichtschalter. Zunächst konnte ich weder eine Quelle für den Luftzug, noch für das ohrenbetäubende Rotorengeräusch ausfindig machen. Ich wollte nachsehen, ob nicht vielleicht doch draußen, vor dem offenen Fenster, gerade die Amis aus Ramstein eine nächtliche Helikopter-Kampfsimulation in unserer Einfahrt durchführten.
Es war vielleicht nicht so, wie ich es mir gedacht hatte, aber am Fenster fand sich die tatsächliche Ursache für meine audio-haptischen Empfindungen:
Eine überdurchschnittlich große Motte versuchte verzweifelt ihre Flugbahn unter Kontrolle zu behalten, stieß aber immer wieder mit dem Kopf gegen das geschlossene Fenster. Es bedurfte wohl nur einer Verschiebung der ungefähren Flugbahn um 20 Zentimeter nach links, um meinen Seelenfrieden zu retten, aber ich konnte von einem Vieh, dessen Körper zu 90% aus Flügeln bestand, nicht die mentale Kapazität eines selbstfahrenden Teslas erwarten.
So primitiv die Motte als Lebensform im Vergleich zum Homo Sapiens auch zu sein schien, diese spezielle Exemplar machte auf mich einen so gefährlichen Eindruck, dass ich lieber nicht mit ihm Spaßen wollte. Ich glaubte sogar, unter den heftig in Bewegung befindlichen Tragflächen der Motte zwei AIM-9 Sidewinder Luft-zu-Luft-Raketen zu erkennen, also war jede Form von Vorsicht in dieser Situation angebracht. Dementsprechend wollte ich auf großangelegtes Flugabwehrfeuer meiner fensterbrettmontierten FlaK-88 verzichten, zumal ich die nächtliche Ruhe meiner Straße nicht stören wollte.
Ich schlich mich an der Apache-Kampfmotte vorbei in den Heizungskeller, wo sich ein Schrank befand, in dem meine Familie alle ihre Karnevalskostüme aufbewahrte. Mein Zielobjekt war meine Uniform aus Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert, Staffel 3 (übrigens eine Original-Requisite). Jeder wusste, dass die Sternenflotte seit 2367 ihre Uniformen aus Multifunktionsgewebe herstellte, das unter den meisten Umständen dazu in der Lage war, den Wirkungsgrad der meisten Energiewaffen zu reduzieren. Ich nahm auch den alten, rosa PUKY-Helm meiner Schwester vom Stapel mit alten Sportkleidern, denn mein Kopf war bislang ungeschützt. Sicherheitshalber legte ich meiner Katze, die mutig wie eh und je Ort und Stelle immer noch nicht verlassen hatte, ihre Schusssichere Weste für aggressive Fälle von Hausfriedensbruch an.
Jeder weiß, Motten fliegen immer zum Licht, also warum sollte das bei einer Apache-Kampfmotte anders sein? Ich deaktivierte die Hauptbeleuchtung, bahnte unfallfrei meinen Weg durch die Legosteine auf dem Boden zum Fenster. Bei der Wegfindung verließ ich mich natürlich rein auf meine außerordentliche Fähigkeit der Orientierung, weniger auf das eindeutige Scheppern der Mottenrotoren. Ich stellte meine bislang im Holster behaltene Typ-IV-Phaser-Taschenlampe auf Weißlicht ein. Sofort stoppte die Apache-Motte ihre kläglichen Versuche, durch ein geschlossenes Fenster zu entkommen und richtete ihre beiden Facettenaugen wie Zielmarkierungslaser auf mich. Ich hätte vielleicht bedenken müssen, dass ich mich einer unmittelbaren Gefahr aussetzte, einfach so eine bewaffnete Motte anzuleuchten.
Sofort schaltete ich die Phaserlampe wieder aus und warf mich flach auf den Boden. Es schienen nur Sekundenbruchteile zu sein, um die mich die Motte verfehlte, jedenfalls spürte ich den Luftzug über mir.
Ich richtete mich auf und versuchte die Situation neu zu evaluieren. Die Rotorengeräusche kamen nun aus der groben Richtung meines Bettes, wo ich auch in einer Höhe von etwa 1,60m zwei rote Punkte ausfindig machen konnte, die scheinbar nach einem Ziel suchten.
Mein Vorteil war meine kognitive Leistung, denn ich wusste nun, wie die Motte reagieren würde. „Mit Informationen gewinnt man Kriege“, sagte ich zu mir selbst und tastete meine Weg zum offenen Fenster. Ich würde mich auf dem Fensterbrett positionieren, dann die Taschenlampe aktivieren und warten, bis Motte mich als Ziel erfasst hatte. Anschließend müsste ich nur ein schnelles Ausweichmanöver ausführen und das Fenster hinter der hinausfliegenden Motte verschließen.
„Hinzukriegen“, dachte ich.
Ich saß also nun in der Hocke auf dem inneren Fensterbrett, hielt mich mit den Armen am Fensterrahmen fest und betätigte mit der Zunge den Anschalter des Phasers, den ich mir zwischen die Knie geklemmt hatte. Erneut stoppte die Motte ihr wildes Herumgefliege und raste zielgerichtet auf mich zu.
Zu diesem Zeitpunkt allerdings benachrichtigte mich ein lautes Knacken aus der Richtung meiner Füße, dass die Fensterbank unter meinem damals noch recht zierlichen Gewicht von mädchenhaften 95 Kilogramm zusammenbrach. Ich hatte einen Weg von 130 Zentimetern nach unten zurückgelegt, ehe ich auf dem harten Fliesenboden aufschlug. Die Taschenlampe flog quer durch die Luft und landete genau vor den Füßen meiner Katze. Die Kampfmotte drehte vor dem offenen Fenster eine harte 6g-Kurve und raste auf meine unschuldige Mieze zu, die sich, der Gefahr nicht bewusst, immer noch nicht vom Fleck bewegt hatte.
Was ich nun beobachtete, sollte möglichst in die Geschichte eingehen. Denn wie sich in den folgenden Augenblicken herausstellen sollte, machten sich die regelmäßigen, paramilitärischen Unterweisungen, denen ich meine Katze unterzog, bezahlt: Mieze machte aus dem Sitzen einen meterhohen Sprung nach oben und verschluckte die Motte mit einem gezielten Schnappen in einem Satz, ehe sie wieder auf allen Vieren auf dem selben Punkt landete. Alles, was von der Motte übrig blieb, war ein nach Thunfisch stinkender, aus Asche und Explosionsresten bestehender Katzenrülpser.
Ich knallte das Fenster mit Schmackes zu, streichelte meiner Mieze zur Belohnung einmal über den Kopf und warf mich dann total fertig mitsamt Uniform und Sturzhelm auf meine Matratze.
Akt III: Thekla (00h 45 bis 04h 00)
Diese Nacht wäre nicht die einprägsamste Nacht meines Lebens, wenn sie nicht in irgendwelcher Weise noch bizarrer geworden wäre. Nach einer Viertelstunde des erschöpften, aber trotzdem schlaflosen Herumliegens, beschlich mich allmählich ein ungutes Gefühl. So, als stünde ein großes Unheil bevor. So, als würde ein Nebencharakter in einem Actionfilm durch irgend eine kuriose Kraft bemerken, dass sein unvermeidbarer Tod bevorstünde. Glücklicherweise bin ich in meinen Geschichten meist der Hauptdarsteller.
Ich versuchte meine Sinne anzustrengen, um herauszufinden, was gerade schief lief und ob ich noch etwas dagegen tun könnte. Sehen konnte ich nichts, es war ja dunkel. Ich ertastete nichts weiter als meine weiche Bettwäsche, die an sich auch nicht besonders gut schmeckte – jedenfalls stank sie leicht nach Sackschweiß. Blieb nur noch ein Sinn übrig: Das Gehör.
Was konnte ich hören? Ich hörte meinen Atem, meinen Herzschlag und den leisen Bass der HiFi-Anlage, die gerade im Keller des Hauses gegenüber den Putz von den Wänden schüttelte. Apropos Putz. Da war noch ein leises Kratzen, als ob jemand mit einem Teelöffel den Putz von meiner Zimmerdecke abschaben würde.
Ich versuchte meine Pupillen anzustrengen und bei der fast vollständigen Finsternis etwas zu sehen. Es schien so, als würde sich da ein dunkler Punkt an der weißen Zimmerdecke entlanghangeln. Panisch hämmerte ich auf den Lichtschalter.
An der Decke krabbelte die wohl widerlichste Hauswinkelspinne, die ich je zu sehen bekam. Eigentlich war ich nie ein Spinnenhasser, sondern jemand, der auch die Nützlichkeit der kleinen Krabbler zu schätzen wusste, aber dieses Ding war so fett, dass es sich kaum an der Decke halten konnte. Schlimmer noch: Hin und wieder riss sie ein Stück der Fassade heraus, was dann zu Boden viel. Am allerschlimmsten aber, dass sie gerade auf dem Weg zu der Deckenlampe war, die sich genau über meinem Bett befand.
In alter Familientradition taufte ich das Ungetüm auf den Namen Thekla #365. Ich versuchte jetzt keine ruckartigen Bewegungen zu machen und das Biest immer im Blick zu haben, während es sich Bein für Bein näher an meine Deckenlampe herantastete und ich mich Schritt für Schritt näher zur Tür tastete. Denn ich hatte, vorbereitet wie ich war, immer einen Plan für solche Situationen.
Ich rannte kreuz und quer durchs Haus und suchte mir alle möglichen Utensilien zusammen: Zuerst Mutters Druckkochtopf als Gefängnis, denn bloß mit einer verschließbaren Plastikbox wollte ich mich nicht zufrieden geben (vermutlich konnte dieses Vieh eine bloße Plastikbox ohne Mühe öffnen), dann eine Dose Haarspray und ein Feuerzeug, falls ich mich verteidigen müsste. Abschließend eine Rolle Panzerband, denn man weiß ja nie.
Ich trug meinen gesammelten Kram die Kellertreppe hinab, aber beim Betreten meines Zimmers, beging ich den dritten Fehler in dieser Nacht: Ich vergaß, dass kurz hinter der Tür meine Katze völlig unbewegbar auf ihrem Hintern saß. Mit dem Druckkochtopf, der mein Sichtfeld nach unten beschränkte, konnte ich auch nicht durch meine visuellen Rezeptoren an die Präsenz meiner Katze erinnert werden.
Durch diese Aneinanderreihung unglücklicher Umstände stolperte ich über die Felis Catus. Ich ließ den Druckkochtopf fallen, dass es nur so schepperte, und wollte meine freigewordenen Hände dazu benutzen, um mich am Türrahmen abzufangen. Allerdings verfehlte ich den Türrahmen um ein paar Zentimeter und betätigte den Lichtschalter, der die Hauptbeleuchtung ausknipste. Dennoch wurde der meiner Bewegung zugrunde liegende Impuls so umgeleitet, dass ich meinen Fall in ein mehr oder weniger kontrolliertes Stolpern konvertieren konnte. Die plötzlich eintretende Dunkelheit verhinderte allerdings eine effektive Navigation, weshalb ich es nicht verhindern konnte, mit meinen blanken Füßen in ein paar Legosteine zu treten.
Mein Körper krümmte sich vor Schmerz und erreichte einen Zustand der Paralyse. Unfähig mich zu bewegen, aber bei völligem Bewusstsein, musste ich akzeptieren, dass mein Körper sich im freien Fall befand und mein Kopf gerade mit 9,81 Metern pro Sekunde zum Quadrat auf eine Bettkante zu beschleunigte. Ich schlug so hart auf, dass der rosa Sturzhelm entzwei brach und ich das Bewusstsein verlor.
Es vergingen bestimmt 90 Minuten, ehe ich wieder erwachte. Tragischerweise sollten das wohl die einzigen Minuten sein, die ich in dieser Nacht schlafend verbrachte. Gekoppelt an den unbeschreiblichen Schmerz auf meiner Stirn erinnerte ich mich sofort an die bestehende Situation. Es war zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen, und irgendwo in diesem Zimmer befand sich eine achtbeinige Attentäterin, die groß genug war um Kinder am Stück zu essen. Nun war ich ihr ohnehin ausgeliefert, also konnte ich auch das Risiko eingehen, mich zu bewegen und das Licht anzuschalten.
Ich hatte zwei Möglichkeiten: Ein Lichtschalter befand sich neben der Tür, jenseits eines Minenfeldes aus Legosteinen, ein anderer über meinem Nachttisch, neben meinem Bett. In Erinnerung daran, was bei meinem letzten Kontakt mit einem Legostein passiert war, entschied ich mich für den Lichtschalter in der Nähe meines Bettes, auch wenn die Wahrscheinlichkeit hoch war, das in der groben Richtung eine Mörderin mit billardkugelgroßem Hinterteil auf mich wartete.
Ich betätigte letztendlich den Schalter und presste mich mit dem Rücken an die Zimmerwand. Ich scannte jeden Winkel und jede Ecke meines Zimmers nach Indizien ab, die auf die Anwesenheit der Arachnoide hindeuteten. Letztendlich konnte ich aber nur zwei Dinge konstatieren:
Erstens: Die Beule auf meiner Stirn war so groß, dass sie mein Sichtfeld beeinträchtigte. Zweitens: Meine Mieze saß immer noch still und leise auf ihrem Plätzchen vor der Tür. Das Positive daran war, dass die Spinne mit meiner Katze als Aufpasserin unmöglich durch die sperrangelweit offen stehende Tür in den Hausflur hätte flüchten können. Oder?
Ich beschloss, meine Suche zu intensivieren. Ich dachte mir, dass ich als Polizistensohn prädestiniert für eine solche Fahndung war. Auf der anderen Seite war der letzte große forensische Erfolg meines Vaters, als er 1994 endlich herausgefunden hatte, wer ihm in der ersten Klasse immer die Kaugummis geklaut hatte. Naja, der Apfel fällt nicht nur weit vom Stamm, sondern wurde in diesem Fall aus dem Sonnensystem katapultiert.
Wie es das Schicksal wollte, just als ich meine krampfhafte Haltung aufgab, entdeckte ich das Ungetüm, wie es über dem Lichtschalter lauerte – einen einstelligen Betrag an Zentimetern über meiner rechten Hand.
Reflexartig sprang ich nach oben und klammerte mich mit allen Vieren an der Deckenbeleuchtung fest. Nun muss ich aber erklären, dass es sich bei meiner Deckenbeleuchtung nicht um einen extravaganten Kronleuchter handelte, der entsprechend gut verankert war, um sein Gewicht zu tragen. Im Gegenteil: Meine Eltern hatten mir eine etwa 25 Jahre alte Funzel an die Decke gehangen, nicht zu erwähnen dass diese nur mit der Hilfe einiger Dübel in der Decke gehalten wurde. Hatte ich erwähnt, dass ich 95 Kilo wog?
Ich hing wahrscheinlich nicht einmal eine volle Sekunde an der Lampe, da riss sie auch schon aus und ich segelte nach unten. Dieses mal wurde ich vom Schicksal verschont, denn mein Bett fing mich auf.
Die Spinne aber... war weg. Sie war jedenfalls nicht mehr am Lichtschalter. Panisch suchten meine Augen alles um mich herum ab. Da! Da war sie. Wie von der Tarantel gestochen (hehe, Wortwitz), flitzte Thekla im Affenzahn über den Fliesenboden und verschwand unter meinem Bett.
„So nicht!“, dachte ich mir und rief laut aus: „Schlafentzug wird in diesem Haus mit der Todesstrafe geahndet!“
Ich berief mich bei dieser Aussage auf §21 unserer Allgemeinen Hausordnung, den mein Vater 2016 ergänzte, nachdem einer meiner Freunde und ich beim Spielen von Videospielen des nachts zu laut wurden (Wobei es mich wundert, dass er von seinem eigenen Geschnarche nicht wach wird).
Ich stemmte meine übergroße und damit überschwere Matratze erstmals ohne Mühe in die Senkrechte und verfolgte den braun-grauen Schatten der Rennspinne unter dem Lattenrost. Sie bog scharf nach rechts ab, dass ihre hinteren vier Läufe tiefe Rillen in die Fliesen zogen und verkroch sich hinter der Rückenlehne meines Bettes. Das war fatal. Dieser Teil meines Bettes wog gut und gerne mehr als einhundert Kilogramm. Aber ich konnte diese Spinne nicht einfach gewinnen lassen, richtig?
Einfallsreich wie ich war, lehnte ich mich mit meinen vollen 95 kg gegen das Bett und mit etwas Schmackes schaffte ich es, das Gestell in die Mitte des Raumes zu schieben.
Thekla zögerte keine Millisekunde, wieder auf Touren zu gehen. Im Slalom manövrierte sie durch das Minen-, ich meine Legofeld. Sie sprintete in Richtung Tür, aber dann leistete sie sich eine Vollbremsung mit doppeltem Überschlag, bevor sie nur etwa einen Dezimeter vor meiner Katze zum Stehen kam. Das Mistvieh regte sich nicht, genauso wenig wie die Spinne.
Thekla bewegte kurz ihre Pedipalpen, um zu sehen ob Mieze reagieren würde. Dann setzte die Spinne einen ihrer Füße nach vorne. Dann den nächsten, dann die anderen sechs. Meine kleine Miezekatze sah gerade einer Hauswinkelspinne dabei zu, wie sie seelenruhig einfach so an ihr vorbei spazierte.
„Katze!“, schrie ich wutentbrannt, „Mach deinen Job!“
Mieze sah mich einfach nur verdutzt an. Egal, ich sah mich um und griff nach dem Druckkochtopf. Im Sprint hechtete ich dem Langbein hinterher, ich sprang ab, vollführte einige Meter des waagerechten Fluges durch die Luft und BÄM! hatte ich Thekla unter dem Topf gefangen.
Man konnte Spüren, wie die Spinne mit aller Kraft von innen gegen Topf drückte, also setzte ich mich schlichtweg drauf. Wo war der Deckel hingefallen? Ich konnte den Topfdeckel unter meinem Schreibtisch ausmachen, einige Meter von mir weg, da konnte ich unmöglich rankommen.
Ich konnte dieses Biest nicht hier herumlaufen lassen, aber ich wollte sie auch nicht umlegen, denn dann wäre ich kein Deut besser als sie (also ich vermute mal, dass sie schon jemanden umgelegt hat, denn sie hatte diesen Killerblick und eine rote Narbe über den rechten vier Augen).
Ach was sollte schon passieren? Eine kleine Hausspinne konnte doch unmöglich einen schweren Metalltopf anheben! Ich krabbelte also unter den Schreibtisch, um den Topfdeckel zu holen, ließ den Topf an sich dementsprechend alleine.
Gebannt stoppte ich meine Bewegung, als ich doch tatsächlich beobachtete, wie sich der Topf wie von Geisterhand weiter bewegte. Als ich näher kam hob sich der Topf um einige, wenige Grad an. Ehe die fette Spinne ihr dickes Hinterteil aber unter dem Topfrand hindurch drücken konnte, schloss ich den Achtbeiner in einem geschickten Karatemanöver im Druckkochtopf ein und konnte erst einmal gelassen aufatmen, als die Verschlüsse einrasteten.
Doch nicht genug! Der Topf begann heftig zu vibrieren, gar hin und her zu schütteln, als würde die Spinne im Inneren wild hin und her jagen und springen. Als hätte man einen Sack voll wütender Hornissen hineingetan. Ich verstärkte den Zusammenhalt von Topf und Deckel also mit einigen Lagen Panzerband. Ich setzte mich noch einmal auf den Topf, weil ich mir nun überlegen musste, wie ich das gefangene Ungetüm draußen freilassen sollte.
Ich hörte und sah, wie im Treppenhaus über mir das Licht angeschaltete wurde. Ich lauschte, wie mein Vater die Treppen herabstieg. Sichtlich müde und mit dunklen Augenringen schenkte er, noch nicht ganz den Abstieg der Kellertreppe vollendet, einen Blick, der Folgendes zusammenfasste:
Warum um alles in der Welt, spielt mein Sohn um 4 Uhr morgens in seiner Star-Trek-Uniform Topfschlagen mit seiner Katze?
Ohne Frage und ohne Antwort, ohne jegliche verbale Kommunikation drehte mein Vater auf den Absätzen seiner Birkenstock um und stapfte nach oben. Man fragt lieber nicht warum, denn genau warum kann ich auch nicht beurteilen, aber sonderbarerweise gehörte es zur Morgenroutine meines Vaters, um 4 Uhr morgens aufzustehen und den Küchenboden zu putzen.
Nun, da ich ja selbst kein Auge zugemacht hatte (zumindest nicht freiwillig), konnte ich meinem Vater ja wenigstens Gesellschaft leisten, aber vorher musste ich die Spinne noch loswerden. Es sollte sich als weit weniger herausfordernd herausstellen, die Spinne freizulassen, denn sobald ich vor der Haustür angekommen war, konnte ich das Klebeband problemlos wieder entfernen und den Topfdeckel kontrolliert absprengen. Ich beobachtete, wie Thekla durch den Vorgarten mähte, dabei versehentlich ein Eichhörnchen erlegte und schließlich im Gebüsch verschwand. In der Ferne konnte man sehen, wie einige Bäume im Licht der aufgehenden Sonne niederfielen, da floh sie in die weite Welt. Meine Thekla.
Epilog:
In der Spätausgabe der Lokalnachrichten am Abend des selben Tages sollte man dann doch hören, wie eine Spinne mit einer roten Narbe über den rechten vier Augen in den frühen Morgenstunden zwei unschuldige Bürger erschossen haben soll. Daneben sah man ein Foto, auf dem Thekla in vier Paar Handschellen nebst einem Kilo Kokain zu sehen war.
Doch was ist die Moral von der Geschicht', liebe Kinder? Oder sollte ich sagen: Liebe Eltern? Denn Hauswinkelspinnen, wie dick, hässlich oder groß auch immer, sind keine Ungetüme oder tötungswürdigen Lebewesen (zumindest hier in Deutschland, wie das in Australien aussieht, soll jemand anderes erzählen).
Der einzige Ekel, der von Spinnen ausgeht, ist der, der Eltern ihren Kindern anerziehen. Dabei machen die Dinger doch nüchts. Sie müssen vielleicht nicht zwangsweise im Haus leben, aber sie sind harmlos und Tiere, wie jedes andere Tier auch.
Dieses Prinzip lässt sich auf alles übertragen, was man Kindern beibringen kann. Es ist nicht immer hilfreich, wenn Eltern ihren Kindern nur beibringen, was sie selbst denken – wie soll das Kind denn so eigene Erfahrungen machen und eigene Eindrücke von der Welt sammeln?
Grüße von Thekla aus der JVA Saarbrücken. In einigen Jahren hat sie ihre Freiheitsstrafe abgesessen und dann wird sie auch Dich besuchen und dir diese Tatsachen klar machen.
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