Saarlands Straßen, Saarlands Fahrer
- The Machine

- 13. Nov. 2021
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Sept. 2022
Manche Leute behaupten, ich wäre der ordnungsgemäßen Führung eines Fahrzeuges nicht mächtig. Andere wiederum, mit anderen Worten: Die bedeutende Mehrheit, sagen aber, ich wäre ein Virtuose des Schalthebels. Ich denke und der Wagen fährt - die ursprüngliche Form selbstfahrender Automobile, so wie es in den Zeiten, als Tesla noch ein Erfinder und keine Marke war, praktiziert wurde. Nur die mächtigsten und erfahrensten Fahrzeugführer konnten damals ihre Gefährte auf diese Weise bändigen.
Doch wie konnte ich in der heutigen Zeit, in der die Kunst der Geschwindigkeitsüberschreitung dermaßen in Vergessenheit geraten war, dieses Level an Geschicklichkeit im Umgang mit Lenkrad und Pedalen erlangen? Ganz einfach, ich habe die praktische Prüfung gleich vier Mal gemacht - um auch wirklich sicher zu sein, dass ich alles kann.
Als ich 18 war vermachte mir mein Opa seinen Wagen. Einen VW Golf Goal Plus 1.6 des Baujahres 2006. Es war kein wirklich luxuriöser Wagen, aber als automobilloser Jungspund freute ich mich nichtsdestoweniger über die sich mir eröffnende Möglichkeit, überall hin zu können, ohne mich dafür großartig bewegen zu müssen.
Wie bei allen neuen Sachen, die ich mir aneignete, inspizierte ich das Fahrzeug zunächst gründlich. Der Motor war für einen Mittelklassewagen mehr als leistungsstark, wäre da nicht das überschwere Chassis, sowie erhöhter Luftwiderstand bei der Fahrt, weil der Wagen, damit meine Großeltern besser einsteigen konnten, höher gelegt wurde. Anstatt wie der übliche unter Hybris leidende Student zu sagen, dass dieses Auto mir missfiele, akzeptierte ich die Herausforderung, mich ab sofort mit diesem Gefährt durch die Straßen zu bewegen.
Ich ließ meinen Golf bei der Sternenflotte registrieren, klebte den klischeehaften EMP-Sticker auf die Kofferraumklappe, und schließlich platzierte ich den Schlüsselanhänger, den mir meine Mutter Geschenk hatte am sekundären Schlüsselring. Er trug die Aufschrift "Fahr nie schneller, als dein Schutzengel fliegen kann."
Nehmen wir mal an, dass nicht ständig Aasgeier oder Dämonen des Satans über mir kreisten, sondern tatsächlich ein Schutzengel, selbst in diesem Fall wäre jener mindestens mit Ionentriebwerken ausgestattet. Ein Golf, mit welcher Ausstattung auch immer, würde niemals die Leistung eines Ionentriebwerks nachahmen können - zumindest nicht in diesem Jahrhundert, da könnte ich noch so gut fahren.
Abgesehen von der sachlichen Falschheit, war der Schlüsselanhänger aber doch eine nette Geste.
Schon nach meiner Ersten Fahrt legte sich einer meiner Grundsätze fest, der die folgenden Jahre für mich prägen sollte: "Es ist egal, wie die Karre aussieht, solange sie noch fährt." Mir tat nur das nun verwitwete Eichhörnchen aus der Querstraße etwas leid. Und die Mauer vom Wasgau-Parkplatz. Und der Typ, der das Schild in der Einfahrt vom McDonalds wieder gerade biegen musste.
In den ersten beiden Jahren meiner Fahrererfahrungen taten sich gleich schon viele derartige Prinzipien auf, an die man sich auf Saarlands Straßen oft erinnert fühlen durfte. Solche waren zum Beispiel:
- Im Quierschieder Weg ist immer Stau
- Die Wettervorhersage von Radio Salü ist so präzise wie ein Traktor bei dem Versuch mit dem Frontlader einen Nylonfaden in das Ör einer Nähnadel einzufädeln.
- Jedes Mal, wenn man aus Versehen mal das Radio auf SR-3 schaltete, altert man schlagartig um 30 Jahre und so weiter...
Das Saarland ist an sich ein kurioser und gleichwohl faszinierender Ort zum fahren. Der Vorteil in der geringen Größe lag daran, dass man jeden beliebigen Ort innerhalb in höchstens 90 Minuten erreichen konnte. Dabei kam einem das Saarland bei der Durchfahrt gar nicht so klein vor. Ich erinnere mich daran, wie ich schon des Öfteren stundenlang durch die Prärie getuckert war, ohne zu wissen, ob ich mich überhaupt noch im Saarland befand.
Man konnte binnen 5 Minuten über die A8 von der einen Seite des Saarlandes zur anderen, oder einfach 3 Wochen lang über Land und durch Orte, an denen seit 1936 keiner mehr war.
Während der Fahrt fielen auch je nach Region recht viele Charakteristika auf. Bei mir zuhause, im Süden, durfte man schon auf unbefestigten Straßen von der Breite eines Radweges 100 Sachen fahren, während im Norden, Richtung Wadern, die aufaddierte Summe der Geschwindigkeiten aller fahrenden Fahrzeuge auf einer Straße geringer als die Geschwindigkeitsbegrenzung sein musste. Dort oben standen so viele Blitzer am Straßenrand, dass man keine Leitplanke mehr brauchte.
Das wohl Wichtigste, was man als Fahrer im Saarland aber kennen sollte, sind die Kfz-Kennzeichen, denn jene geben nicht nur Auskunft über den Landkreis, aus dem der Besitzer stammt, sondern auch, welche Fahrschule sich wohl für seinen Fahrstil verantworten kann.
Dies sind die Kennzeichen des Saarlandes:
HOM (Homburg) – Oft schon als Pfälzer deklassiert lässt sich der Fahrstil des Homburgers unter schlichtweg einem Begriff zusammenfassen: Gesundheitsgefährdend. Die meisten Homburger fahren vollautomatische SUVs, weil sie mit anderen Fahrzeugen ganz sicher nicht klarkommen. Ganz klassisch ist aber der weiße 1er BMW, der auf der Autobahn mit seinen riskanten Überholmanövern für Aufmerksamkeit sorgt.
IGB (St. Ingbert) – Dieses Kennzeichen ist mir rätselhaft. Die Stadt wie auch der Landkreis Sankt Ingbert sind mir sehr gut bekannt, aber aus der Perspektive des Polizistensohnes lässt sich sagen, dass es sich bei gut 90% der unter diesem Kennzeichen fahrenden Autos in Wirklichkeit um Zivilfahrzeuge der Kripo Sulzbach handelt. Nämlich die übliche Mercedes C-Klasse in einem so dunklen lila, dass es aussieht wie schwarz. Jene halten sich übrigens nur an das Geschwindigkeitslimit, wenn der Beifahrer zusieht.
MZG (Merzig-Wadern) – Dieses Autokennzeichen verursacht einen eiskalten Schauer auf dem Rücken der meisten Saarbewohner. Es ist wohl nicht das Schlimmste im Saarland, aber schlimm genug für langfristige Komplikationen im Herz-Kreislauf-System. Von der Inkompetenz der Fahrlehrer, den niedrigen Geschwindigkeitsbegrenzungen, den vielen Blitzern und der übersimplifizierten Straßenführung völlig verunsichert, fühlt sich der Merziger Fahrer so zur Einhaltung der StVO genötigt, dass er mittels seines Fahrstiles den gesamten Verkehr verlangsamt. So lässt der Merziger beispielsweise den Blinker vorsichtshalber schon drei Kilometer vor der Ausfahrt an und bremst sicherheitshalber nochmal vor der grünen Ampel ab, falls sie noch gelb werden wolle. Im krassen Gegensatz zu all der Vorsicht steht aber die PS, die das durchschnittliche MZG-Auto unter der Haube hat: In aller Regel sind es Sportwagen oder Oldtimer, die hier über die Straßen rollen.
NK (Neunkirchen) – Neunkirchen ist eine besondere Stadt, in der niemand Zeit für irgendwas hat. Geschwindigkeitsbeschränkungen sind dort nichts weiter als eine Mindestanforderung, Licht oder Blinker sind völlig überbewertet. Der klassische Neunkircher fährt einen Automatik Audi-Kombi, aber meist nie unter 130 Sachen und ist damit der Grund, warum die meisten Saarländer schon mal ihren linken Außenspiegel ersetzen mussten.
SLS (Saarlouis) – Das Unaussprechliche, die Spitze des Eisberges, das Reich von Gerd Saar, ohne Moral und Ethik, jenseits von Gut und Böse und wohl die weltweit einzige Einnahmequelle von Smart und Fiat abseits der Landwirtschaft. Saarlouis ist das New York des Saarlandes: Liberal, zwanghaft hipster und von vorne bis hinten versifft von inkompetenten Lenkradbeißern.
Das allgemeine Saarlouiser Pootsche fährt entweder einen Fiat 500, einen Einkaufswagen oder einen Smart, der entweder durch Rapsöl, Pedale oder einen Staubsaugermotor betrieben wird. Die Saarlouiser Unfallquote ist nur deshalb so niedrig, weil es in den seltensten Fällen ein Fahrzeug über die Schrittgeschwindigkeit schafft. Vorteil der Fahrzeugwahl ist es natürlich, dass das man das Auto auch im Fahrradständer abstellen kann, oder zur Not einfach in der Handtasche mitnimmt. Nachteil daran ist es, wenn man auf der zweispurigen Autobahn dabei zusehen muss, wie ein Merziger Lamborghini Sian mit 80 Sachen von einem Elektro-Smart aus Saarlouis mit 81 Sachen überholt wird, während sich hintenan der Verkehr bis nach Madrid zurück staut.
Ein populäres Saarlouiser Sprichwort lautet: „Hauptsache erster im Stau.“
VK (Völklingen) – In Völklingen scheint es gar keine Fahrschule zu geben, denn der gemeine Fahrer von dort hat in seinem Leben noch nie etwas von einer StVO gehört. Die Nähe zu Frankreich und deren bedrückenden Geschwindigkeitseingrenzungen scheint wohl einen psychologischen Effekt auf die Völklinger zu haben, sodass ihre Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht ganz so schlimm entarten, wie die Neunkircher, aber allgemein sind die VKs ein ungeduldiges Volk und in aller Regel die, die als erstes Hupen.
Das klassische Zusammentreffen mit dem Völklinger auf der Autobahn beschreiben viele Saarländer wie folgt: Zunächst wird man in tiefster Nacht stundenlang von einem schwarzen BMW X6, halb Traktor, halb LKW, verfolgt, der sein Fernlicht provokant anlässt. Sobald man für eine enge Kurve um mehr als 1,5 Stundenkilometer abbremst, überholt der BMW X6 im ersten Gang und schaltet anschließend das Fernlicht ab.
WND (St. Wendel) – St. Wendel ist das stille Kind in dieser Liste, von dessen Existenz nie jemand weiß, bis es vor Gericht bezeugen kann, dass es der Völklinger war und nicht der Neunkircher, der dem Saarlouiser den Wagen zerkratzt hat, weil er seinen Smart unter den X6 gestellt hat. Überwiegend geprägt von Kleinwagen und altersschwachen Seniorenautos hält sich der Einfluss des WNDlers auf das Straßenleben des Saarlandes in Grenzen.
SB (Regionalverband Saarbrücken) – Die Kings, die Virtuosen, die Künstler, die Alleskönner hinter dem Lenkrad, zu denen auch ich mich zähle. Wer mal im Straßenverkehr der Stadt Saarbrücken und den umliegenden Orten unterwegs war, der weiß, wie viel Können das abverlangt. Bis heute werden Leute vermisst, die in den 80ern in den Ludwigskreisel eingefahren sind, aber nicht mehr wieder herausgefunden haben – diese Verkehrsführung prägt den SB-Träger.
Besonders regelaffin ist kein SBler, aber dafür können sie fahren. Riskante und zeitlich gut abgestimmte Manöver sind es, mit denen der Träger des Saarbrücker Zeichens sich zwischen all den anderen Affen hindurchschlängelt, der Millimetergenaue Überholmanöver mit 180 Sachen auf der A8 nach Saarlouis zwischen zwei voll beladenen 40-Tonnern durchführt und der in einem Vorgarten besser manövrieren kann, als ein Saarlouiser in der Einbahnstraße. Dementsprechend gibt es für den Saarbrücker kein „klassisches Fahrzeug“, denn solange es einen Motor und Räder hat, kann der Saarbrücker es fahren.
So artenreich das Saarland mit seinen Fahrern auch ist, gibt es dennoch einige... „Besonderheiten“, die sich einfach nicht kategorisieren lassen: Darin enthalten ist niemand geringeres als ein jedes Mitglied meiner Verwandtschaft.
Es begab sich einmal, ich glaube es war das frühe Jahr 2021, als ich meinen Golf zur Inspektion und Generalüberholung in die Werkstatt brachte. Es brannte nur ein Lämpchen, dass ausgeknipst werden musste und dazu hatte ich einen Ölwechsel beantragt, keine Große Sache, würde nur einen Tag dauern. Da meine Mutter nur Teilzeit arbeitete, durfte ich ihren „Wagen“ in Zwischenzeit benutzen: Ein Nissan Juke. Wohl eher ein Nissan Joke, denn als mehr als einen schlechten Witz konnte man das Ding nicht bezeichnen.
Äußerlich sah das gute Stück wie ein LKW aus, bei dem man nach einem Blechschaden vergessen hatte, das Blech auch wieder auszubeulen, vermutlich wurde der Juke einfach nur aus anderen Fahrzeugteilen recycelt. Innen allerdings, puh... Ich hätte eher in einen Schuhkarton gepasst als in dieses Ding. Der Nissan war wie Doctor Who's TARDIS, nur innen eben kleiner. Genau: Der Nissan RETARDIS.
Mit meinen bescheidenen 195cm Körpergröße musste ich den Vordersitz ausbauen, sodass ich meine Beine von der Hinterbank fast ausstrecken konnte, um an die Pedale zu kommen, derweil ich meinen Kopf aus dem Schiebedach streckte, um den Straßenverkehr beobachten zu können. Ich hätte den Wagen meiner Mutter eher als Rollschuh benutzen sollen, jedenfalls war diese fahrende Totalschaden nichts für mich.
Nachmittags erreichte mich dann ein schockierender Anruf von der Werkstatt. Der Mechaniker meinte, obgleich sich mein Auto für sein stolzes Alter in einem herausragenden Zustand befände, seien bei vergangenen Wartungen viele Fehler unterlaufen. Dazu zähle unter anderem: Leckende Bremsschläuche, rostiger Auspuff, verbogene Beifahrertür, ein fehlender Scheibenwischer, drei abgebrochene Zähne im Getriebe, ein falsch herum montierter Bremssattel, der eine Rille in die Bremsscheibe gefräst hatte, wie auch das asynchrone Blinken des Warnblinkers.
Ohne über den Preis nachzudenken akzeptierte ich die Reparatur, denn schließlich wollte mein Vater dafür aufkommen. Ich konnte aber unmöglich wieder zurück in diese Reisschüssel von einem Auto, die meine Mutter da fuhr und die für drei meiner Hexenschüsse, sowie die Knieschmerzen meines Lebens verantwortlich war.
Ich bekam für einen kurzen Moment Gänsehaut, als ich an den Vorgänger des Nissan Jukes denken musste: Das Rollbrett.
Das Rollbrett war ein mehr als 20 Jahre alter 3er BMW, der so lang und flach war, dass Leute mit einer Körpergröße über 1,55m nur liegend darin Platz finden konnten. Außerdem musste man beim Lenken mit der Wasserpumpenzange nachhelfen und der Schleifpunkt verteilte sich über den ganzen ersten Gang. Dafür hatte man 100 Sachen schon bevor man das Gaspedal berührt hatte.
Die einzige Alternative war der VW Touran meines Vaters. An sich ein Altherrenauto, aber gut zu fahren und mit genügend Beinfreiheit – wären da nicht die Sportwagenfelgen, die mein Vater sich dafür gekauft hatte. Ich stelle mir vor, wie er eine ganze Boxencrew brauchte, um die Winterreifen aufzuziehen, aber dafür dauerte es nur 11 Sekunden und 72 Hundertstel.
Welche Alternativen blieben mir noch? Ich könnte mich von meiner Tante befördern lassen, die lieber alle drei Sekunden fest aufs Gas drückte, anstatt einfach den Fuß still zu halten, sodass man am Ende der Fahrt auf der Stirn und im Nacken eine Beule hatte. Nein, lieber nicht.
Zu Fuß? Würde ich einen mehrseitigen Abriss über Saarlands Fahrverhalten und meine unnötig phantasiereichen Schilderungen meiner Erlebnisse mit und rund um Automobile verfassen, wenn ich es auch nur im Entferntesten in Betracht ziehen würde, zu Fuß zu gehen?
Irgendwie habe ich den Fahrzeugmangel schon überbrückt, aber als verantwortungsbewusster und vernunftbegabter Mensch wäre es an dieser Stelle wohl zu peinlich, um das zu erklären.
In jedem Fall freute ich mich riesig, als mein blitzeblank polierter Golf endlich mit dem schnurrenden Motor eines Lamborghini Urus unter der Haube in Schrittgeschwindigkeit aus der Garage fuhr. Alle Schäden waren behoben und zusätzlich hatte man folgende Verbesserungen vorgenommen: 7 neue Gänge, ein Kaffeeautomat im Handschuhfach, Formel-1- Turbolader, DRS für die unbegrenzte Zone auf der A8 nach Saarlouis, Nachbrenner am Auspuff und zwei 10 kW-Laser als Ersatz für das Kurvenfahrlicht. Ich war rundum zufrieden und auch die 80.000€ Schulden, die mein Vater nun hatte, machten meinem Gewissen recht wenig zu schaffen.


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